11. Snowflake in Not

Foto. Gebirgslandschaft. Felsige Berggipfel vor rosa-lila Himme.
Das Bergland (freies Foto von Pexels).

Miau und hallo, meine zauberhaften Leser*innen,

 

eigentlich sah es ja so aus, als hätten wir Tiere im Zauberwald zumindest für eine Weile Ruhe vor den Unheilvollen, nachdem sie sich quasi mal wieder selbst zerlegt hatten (Geschichten 7 bis 10.2; siehe Inhaltsverzeichnis). Tja. Das entscheidende Wörtchen ist eigentlich. Doch beginnen wir von vorn:

 

Während ich im Sommer 2023 noch einige Zeit u.a. damit beschäftigt war, die Informationen über meine Familie (=> 10.2 Familiengeheimnisse) zu verarbeiten und mich mit entlaufenden magischen Hundewelpen herumzuschlagen (=> Ein chaotischer Sommertag), hatte Snowflake es sich zur Aufgabe gemacht, die Feen (=> 10.1 Feen) und ihre Lebensweise besser kennenzulernen und die Beziehung zwischen den Tieren aus dem Zauberwald und ihnen zu festigen, damit nach Möglichkeit so etwas wie mit Mary-Jane (=> 9. Ämterchaos – Eine unerwartete Wendung) nie wieder passieren würde. Zu diesem Zweck reiste er regelmäßig in den Feenwald, traf sich mit der Oberfee, Karina, die Ewige, und verbrachte dort mitunter mehrere Tage am Stück. Hin und wieder erhielt ich begeisterte Briefe per Schneckenpost mit seinen neuesten Erkenntnissen.

 

So weit, so gut. Bis vor kurzem Ricky, Annas 12-Jährige, in die Küche gestürmt kam, in der Spring und ich gemütlich beisammensaßen und über dies und das quatschten.

„Ich glaube, das ist für dich – und ehrlich gesagt, sieht die gar nicht gut aus.“

Ich sah zu Ricky auf, die mir mit ausgestrecktem Arm und spitzen Fingern etwas entgegenstreckte – eine der Roten Riesenschnecken, die für uns als Postzusteller*innen arbeiten.

„War kurz auf dem Balkon, da habe ich sie gefunden.“ Ricky bemühte zwar sich redlich, ihren leichten Ekel zu verbergen, setzte die Schnecke dennoch rasch vor meine Nase und entfernte sich sofort wieder vom Küchentisch; ihre Abneigung ist nicht so extrem wie Annas, aber sie steht auch nicht wirklich auf Schnecken oder andere Kriechtiere.

 

„Das Briefchen ist ziemlich lädiert“, informierte sie mich von der Küchentür aus.

 

In der Tat. Ich hoffte, dass Ricky noch einen Moment vorne bleiben würde, damit Spring und ich Zeit hatten, uns mit der eindeutig verletzten Schnecke auf dem Küchentisch zu befassen. Würde Anna sehen, dass eine solche auf ihrem Tisch saß, … Nun, ja. Das würde eine Menge Diskussionen geben.

 

Schnell öffnete ich den zerfledderten Brief, während Spring sich besorgt daran machte, die Verletzungen der Schnecke zu inspizieren.

„Sieht eindeutig nach einem magischen Angriff aus“, stellte sie voller Mitgefühl fest.

 

Große Katze im Himmel. Zuletzt waren magische Postbot*innen in der Zeit der großen Schlacht mit den Unheilvollen 30 Jahre vor meiner Geburt angegriffen worden. Rasch begann ich den Brief vorzulesen:

 

Hey, Kumpel, ich schreibe dir noch kurz ein paar Zeilen, bevor ich morgen in der Frühe mit Karina ins Bergland aufbreche. Dort treffen wir uns mit einem alten Freund von ihr, der Informationen zu dem genauen Aufenthalt von Nero und seiner Bande hat, die er uns aber nur persönlich geben will. Bin in spät. einer Woche wieder im Zauberwald und werde berichten. Bis dann, dein Freund Snowflake

 

In mir klingelten alle Alarmglocken und ich warf panisch einen Blick auf das Datum des Briefes. Er war vor 14 Tagen geschrieben worden und Schneckenpost dauert in der Regel nicht länger als ein paar Stunden. Nicht gut.

 

„Snowflake ist nicht wieder zurück im Zauberwald, oder?“, fragte ich mit einem Kloß im Hals Spring, die erst vor ein paar Stunden von dort hierher gesprungen war. Diese schüttelte nur den Kopf, da sie gerade die Schnecke behutsam in die Schnauze genommen hatte, um sie auf das Fensterbrett vor dem Küchenfenster zu setzen.

 

„Die wird das überleben; das mit Snowflake macht mir deutlich mehr Sorgen“, sagte sie schließlich.

 

Mir auch, verflixter Feenstaub. Irgendwas war passiert. Snowflake allein mit der Oberfee im Bergland, wo sich Nero und seine Bande aufhielten ... eine Schnecke, die angegriffen worden war … mir stellten sich alle Haare auf, als nebenan mein magisches Funkgerät zu piepsen anfing.

 

„Ich hole es dir“, Ricky sprintete ins Zimmer und zurück.

 

Es war ihre Stunde, daher war sie noch vorne, fiel mir nun ein. Hin und wieder bekommen alle Anteile eine Stunde nur für sich. Ricky verbrachte ihre Zeit meist damit, Musik zu hören.

 

Kaum hatte ich das Funkgerät auf Empfang gestellt, schallte mir Maschas Stimme entgegen:

 

„Snowflake … verschwunden … Post … spüre es … da ist was passiert“ Mascha war so aufgelöst, so panisch und verzweifelt, wie ich sie noch nicht nie erlebt hatte – ihre Stimme überschlug sich förmlich und so verstand ich nur einzelne Fetzen von dem, was sie sagte.

 

Spring, die mitgehört hatte, gab mir ein Zeichen und verschwand im selben Moment. Nur eine Sekunde später hörte ich durch das Funkgerät, wie sie mit Mascha sprach und wohl versuchte, diese aus ihrer Panikattacke zu holen. Mein Liebste war mal eben zurück in den Zauberwald gehüpft. Magie ist schon großartig. Was genau die beiden redeten, verstand ich leider nicht; sie hatten das Funkgerät offenbar beiseitegelegt.

 

So starrte ich gemeinsam mit Ricky, die sich inzwischen zu mir gesetzt hatte, ungeduldig auf mein Gegenstück und wartete auf Infos. Ricky kraulte mich beruhigend hinter den Ohren, meine Anspannung war wohl nur allzu deutlich sicht- und spürbar.

Schließlich hörte ich Spring sagen: „Kannst du herkommen? Ich glaube, wir müssen da was unternehmen …“

 

Ricky, die mitgehört hatte, sagte statt meiner: „Klar, er ist gleich bei euch!“ Und zu mir gewandt: „Ich sag Anna Bescheid.“

Ich zögerte kurz, auf Ricky ist bei so etwas zwar Verlass, aber …

 

„Ich bekomme das hin. Versprochen!“, unterbrach Ricky meine Gedanken. Ich nickte, verabschiedete mich, indem ich meinen Kopf an ihrem Arm rieb – und landete zwei Sekunden später vor Maschas Hütte.

 

 

Bild. Waldweg, der am Rand mit kleinen Lichtern beleuchtet wird. Gesäumt von Bäume. Neblig.
Der Feenwald bei Nacht (freies Foto von Pixabay).

Nervös hin und her laufend erzählte sie, dass sie schon länger kein gutes Gefühl mehr gehabt hätte, was Snowflakes Besuche im Feenwald anging.

„Ihr wisst, dass ich den Feen gegenüber immer positiv eingestellt war. Anders als du“, sie sah mich an, „aber Snowflake wirkte nach jedem seiner Besuche dort seltsamer. Ich kann es nicht beschreiben. Er hat jedes Mal gesagt, ich solle aufhören, mir Sorgen zu machen, wenn ich ihn darauf ansprach. Und dann kam vorhin diese Schnecke, eindeutig von Krähen angegriffen.“

 

Ihr blieb die Sprache weg. Von Krähen angegriffen, genau wie die an mich. Ich atmete tief durch. Unsere Riesenschnecken sind recht robust und wehrhaft, aber dass sie es geschafft hatten, trotz eines Krähenangriffes noch ihre Ziele zu erreichen, grenzte an ein Wunder.

„Mein Sohn sagt immer Bescheid, wenn eine Mission länger dauert. Da ist etwas Furchtbares passiert. Ich weiß es. Und sein magisches Funkgerät ist ausgeschaltet. Wenn er unterwegs ist, ist das normalerweise an. Wir müssen sofort zu diesen verfluchten Feen. Ich habe seit Tagen ein ungutes Gefühl. Mütter wissen, wenn ihre Kinder in Gefahr sind. Immer.“ (Naja, längst nicht alle und manchen ist es egal, aber zu diesen gehört Mascha nicht.)

 

„Es könnte sein, dass beide, Snowflake UND Karina, angegriffen worden sind“, wandte Spring ein. „Dennoch hast du recht. Wir sollten uns schleunigst auf den Weg zum Feenwald machen oder erst mal eine Nachricht schicken, ob ...“, sie konnte nicht zu Ende sprechen, denn Mascha unterbrach sie:

„Wir springen. Punkt aus. Alles andere dauert viel zu lange. Ich spring über Nepal, ihr über was-weiß-ich und wir treffen uns am südlichen Eingang zum Feenwald.“ Sie verschwand, bevor Spring oder ich noch etwas sagen konnten.

 

„Dazu hätten wir zwar die Einwilligung von Maxi (der Vorstandsvorsitzenden) gebraucht, aber gut …“, Spring sah mich an, „Annas Stadt?“ Ich nickte und so sprangen Spring und ich kurz in eure Dimension und dann zurück in die magische Welt. 

 

Wir kamen ein paar Minuten vor Mascha am Treffpunkt an.

 

„Hab ihn nicht gefunden“, teilte sie uns knapp mit, als sie schließlich landete – und ich wusste sofort, wen sie meinte (klar, oder?).

Dass sie ausgerechnet Nepal als Zwischenlandung gewählt hatte, war kein Zufall gewesen. Natürlich musste sie einen Ort wählen, an dem ein*e Schneeleopard*in nicht auffallen würde, selbst wenn sie dort nur eine Sekunde verweilte, alles andere war viel zu gefährlich. Da wären auch andere Regionen in Frage gekommen, klar, wenn auch nicht mehr viele. Doch in Nepal lebte Snowflakes Vater und Mascha hatte gehofft, ihn dort durch ihr sehr ausgeprägtes magisches Gehör aufspüren zu können.. Schade, dass es nicht funktioniert hatte. Zum einen hätte ich Snowflakes Vater gern kennengelernt, zum anderen hatte ich die böse Befürchtung, dass wir Verstärkung brauchen könnten.

 

Nun, Mascha war inzwischen nicht nur in Sorge, sondern eindeutig auch sehr wütend und wollte, so ganz ohne Plan, direkt zum Palast der Oberfee stürmen. Als ich sie so sah, spürte ich für einen kurzen Moment den altvertrauten Stich im Herz. Ich habe nie erlebt, wie es ist, eine Mutter zu haben, die sich um eins sorgt. Ich denke, viele von euch können das nachvollziehen. Aber manchmal, wenn ich Mascha beobachte, bekomme ich eine Ahnung davon, wie es hätte sein können. Und das tut dann immer ein bisschen weh.

 

„Langsam“, hielt Spring sie zurück. „Vielleicht hat Karina mit dem Ganzen nichts zu tun, sondern ist ebenfalls verschwunden – oder sie hat hilfreiche Informationen. Also sollten wir den Feenwald nicht gleich in Schutt und Asche legen. Überlasst das Reden bitte mir!“

 

Während sie sprach, verteilte sie großzügig magische Energie in Form von winzigkleinen Sternchen über uns. Offenbar ein Zauber, der uns vor der seltsamen Magie der Feen schützen sollte und mir in der Form unbekannt war. Hm. Kater lernt nie aus. Ich hoffte, mir würde so weniger übel und schwindelig werden als bei meinem letzten Ausflug hierher, vertrage ich doch Feen-Magie gar nicht, wie ihr wisst.

 

Wir trafen erstaunlich spät auf eine Fee, normalerweise schwirren die dort überall herum. Heißt ja nicht umsonst Feenwald. Zudem war sie für eine Fee erstaunlich unfreundlich und geradezu fassungslos, als sie uns sah. Sie führte uns nur sehr widerwillig zu dem Palast der Oberfee. Alles sehr seltsam. Der Palast der Feenkönigin ist mini-klein, wie ja auch die Feen an sich, und liegt gut versteckt inmitten eines orange blühenden, sehr stark duftenden Buschs. Wie alles im Feenwald ist er wirklich sehr schön. So objektiv. Mir ist das alles allerdings eine Spur zu hübsch, zu niedlich, zu … heile Welt und trotz Springs Zauber wurde mir leicht schwindelig.

Wir mussten aufgrund unserer Größe natürlich vor dem Busch warten – und nach etwa zehn langen Minuten kam Karina zu uns geflogen.

„Oh, welch Ehre, euer Besuch! Wie kann ich euch helfen?“, flötete sie in den höchsten Tönen.

 

Unangenehme Tonlage für empfindliche Katzenohren, sag ich euch. Spring stoppte Mascha mit einer Pfotenbewegung, die schon Luft holte, vermutlich, um loszufauchen, begrüßte Karina ebenfalls sehr höflich und fuhr dann fort:

„Du kannst uns in der Tat helfen. Wir sind auf der Suche nach Snowflake und dachten, du wüsstest vielleicht, wo er sich aufhält.“

„Ah, der liebe, liebe Snowflake“, leitete Karina ihre Antwort ein; mir stellte sich das Fell auf ob ihres süßlichen Tonfalls und ich bemühte mich eilig, es wieder anzulegen.

„Den habe ich schon ewig nicht gesehen.“

Schon diese erste Lüge der Oberfee war zu viel für Mascha. Ihre rechte Vorderpfote schnellte nach oben und fing die vor uns flatternde Fee ein, umklammerte sie und hielt sie dicht vor ihr Gesicht. So viel zu ‚Wir sind erstmal diplomatisch‘!

„Du lügst“, fauchte Mascha, „ich …“

„Was Mascha sagen will“, mischte sich Spring rasch ein, „wir wissen, dass Snowflake vor ein paar Tagen mit dir unterwegs war.“

Ganz kurz entglitten Frau Oberfee ihre Gesichtszüge, dann zwitscherte sie:

„Ach, ja! Wir haben letzte Woche zusammen einen kleinen Ausflug gemacht. Ganz vergessen. Das Alter, ihr wisst schon“, sie lachte glockenhell. Mir kräuselten sich die Schnurrhaare, so gekünstelt klang das.  

„Ausflug?“, Maschas Stimme überschlug sich fast, „Ausflug? Ihr wolltet ins Bergland. Dahin macht keins einen Ausflug. Ihr wolltet angeblich einen Informanten treffen!“

„Ja, ja. Das meine ich ja. Der kam leider nicht. Naja. Pech. Da haben wir uns dann getrennt. Ich bin hierher zurück und wohin Snowflake wollte, keine Ahnung …“

Ich kämpfte inzwischen wieder mit dem Schwindel, Feenmagie ist wirklich eine stärksten Magien, die ich kenne, und war dadurch wenig hilfreich, Spring holte tief Luft und wollte wohl erneut intervenieren, doch Mascha brachte sie mit einer Schwanzbewegung zum Schweigen, umklammerte Karina noch fester als zuvor und zischte:

„Du hast zwei Schnecken angreifen lassen, damit die Info, wo Snowflake hinwollte, nicht bei uns ankommt. Sag mir, wo mein Sohn ist oder ich – …“

 

Weiter kam sie nicht. Trotz ihres festen Griffs um die winzige Karina, schaffte es diese, sich mit einer schnellen Drehung und einem schrillen Glockenklingeln aus Maschas Pfote zu befreien – und verschwand schneller in den Himmel, als ich gucken konnte.

Tja, nun. Damit hatten wir wohl das Schuldeingeständnis. Nur leider auch nicht mehr.

 

Während Spring die vor Wut tobende Mascha davon abhielt, den winzigen Palast der Oberfee dem Erdboden gleich zu machen, fiel mir ein Glitzern in einem der Bäume ein paar Meter entfernt auf. Ich dachte, ich sehe nicht richtig. Da hockte Mary-Jane! Sie zitterte am ganzen Körper, während sie mir wilde Handzeichen machte. Wenn ich das richtig interpretierte, wollte sie, dass wir ihr folgten, aus dem Feenwald heraus. Möglichst unauffällig machte ich Spring und Mascha auf Mary-Jane aufmerksam.

„Wir folgen ihr und fragen sie, was sie will. Wir haben nichts zu verlieren“, entschied Spring sofort. Und so verließen wir den immer noch merkwürdig verlassen wirkenden Feenwald.

 

Mary-Jane führte uns hinter einen kleinen Hügel nahe dem Eingang zum Feenwald. Dort ließen wir uns nieder.

„Ich weiß, ihr habt keinen Grund, mir zu vertrauen“, begann sie zögerlich und warf uns einen scheuen Blick zu.

In der Tat, die Nacht mit ihr, Konrad und Snowflake am Magischen Feuer im Feenwald (=> Geschichte 9) war mir noch allzu präsent. Und das mit dem Vertrauen ist ja sowieso so eine Sache für sich, nicht wahr?

 

 

Foto. Nahaufnahme des Gesichts eines schwarzen Katers mit gelben Augen.
Erklärkater (freies Bild von Pixabay).

Vertrauen ist ähnlich wie Sicherheit etwas, was die allermeisten Menschen mit DIS/pDIS/kPTBS nicht kennen bzw. fühlen und sich hart erarbeiten müssen. Zu glauben, dass andere Menschen eins nichts Böses wollen, oder gar den eigenen Gefühlen, Wahrnehmungen etc. zu trauen – quasi unmöglich in Anbetracht der sehr früh erlebten, massiven Gewalt. Die Fähigkeit zu vertrauen, da erzähle ich euch vermutlich nichts Neues, erwächst aus der Beziehung zu den ersten Bezugspersonen, i.d.R. also den Eltern. Menschen, die in frühester Kindheit traumatisiert wurden, haben die Grundlagen für die Fähigkeit zu vertrauen nicht lernen können. Sie haben nicht erfahren, dass ein Elternteil oder eine andere konstante Person verlässlich da ist, egal, was ist. Stattdessen erlebten sie Gewalt in allen möglichen Formen (Vernachlässigung, emotional, körperlich, sexualisiert).

 

Das heißt, die engsten Bezugspersonen bedeuteten also sogar Gefahr bis hin zu Lebensgefahr; die eigene Wahrnehmung wurde ignoriert, abgesprochen, verdreht. Warum in aller Welt sollte es also hier und jetzt anders sein? Das zu lernen, ist schwierig, vor allem wenn auch in der nahen Vergangenheit oder Gegenwart allzu oft jeder winziger Funke aufkeimenden Vertrauens enttäuscht oder missbraucht wurde (oder eins in einem per se nicht vertrauenswürdigem Hilfesystem steckt – kleine Ergänzung von Sarah, ein Anteil, den ihr ja schon aus verschiedenen Geschichten kennt).

 

Ich kann das gut nachvollziehen, ticke ich doch bis heute bis zu einem gewissen Grad recht ähnlich. Auch ich misstraue den meisten Lebewesen erst mal, bis sie bewiesen haben, dass sie mein Vertrauen verdient haben. Ausnahmen wie Spring oder Anna & Co bestätigen die Regel. Allerdings habe ich den Vorteil, dass ich 200 Jahre lang Zeit hatte, zu lernen, auf mich und meine Intuition zu hören, und sog. korrigierende Erfahrungen zu machen. Korrigierende Erfahrungen – auch so ein sperriges Wort, das mehr verspricht, als es halten kann. Denn bei Menschen wie Anna & Co, die in Folge der erlebten Traumata ständig in Alarmbereitschaft sind, unter Stress stehen oder dissoziieren, ist das alles anderes als ein Allheilmittel, weil diese anderen Erfahrungen durch das gestresste Nervensystem in aller Regel gar nicht „abgespeichert“ werden können. Ganz oft geht es also bei der Arbeit mit Innen dann darum, die tiefe Angst vor bzw. das tiefe Misstrauen gegenüber Menschen immer wieder und stetig zu beruhigen.

 

Nun, Snowflake geht seit seiner Geburt anders durch diese Welt, denn er hatte mit Mascha von Beginn an eine verlässliche, fürsorgliche Mutter an seiner Seite. Er vertraut grundsätzlich sich und anderen und glaubt stets an das Gute in allen Lebewesen. Gleichzeitig hat er ein gesundes Alarmsystem (im Gegensatz zu traumatisierten Personen) und spürt, wann Vorsicht und Misstrauen angebracht sind. Und das schien dieses Mal versagt zu haben; ich vermute aufgrund der verwirrenden, seltsamen Wirkung der Feenmagie. Frau Oberfee, das wurde immer deutlicher, hatte sein Vertrauen in irgendeiner Weise verraten.

(Wenn ihr mehr zu dem Thema Vertrauen und Trauma wissen wollt, empfehle ich euch den Podcast von KidZ Podcast dazu: Vertrauen oder der Blick auf einen anderen Planeten)

 

 

Bild. Eine Fee, dargestellt als kleine Person mit Schmetterlingsflügeln, kniet in einem Raum.
Freies Foto von Pixabay.

Doch zurück zu Mary-Jane, die offenbar nach dem ersten Satz den Mut verloren hatte und wieder zitternd zu Boden starrte.

„Was willst du uns sagen?“, schnurrte Spring sanft der kleinen Fee zu. „Mary-Jane? Wenn du was weißt, dann erzähle es uns bitte.“

„Sie lügt. Also, Karina“, würgte Mary-Jane hervor.

Ach, was. Spring musste mir angesehen haben, was ich dachte, und warf mir einen strengen Blick zu.

„Also, nicht nur wegen eures Freundes. Sondern immer. Auch wegen mir.“ Mary-Jane starrte nach wie vor intensiv den Boden an. In ihren Händen hielt sie ein Bündel Papiere, wie mir jetzt erst auffiel, das sie nervös mit den Fingern knetete. Himmel, war ich ungeduldig, aber Spring musste Mary-Jane jeden Satz einzeln aus der Nase ziehen.

 

„Es war nicht diese Wühlmaus, die mir gesagt hat, ich soll euch ausspionieren und die Liste angucken. Es war … Karina selber.“ Sofern möglich fing Mary-Jane noch stärker an zu zittern, als sie es eh schon tat. Mascha entfuhr ein Fauchen, mir ein „Ach, du sch…“, nur Spring blieb ruhig und bat, Mary-Jane weiterzuerzählen.

„Karina arbeitet für Minna (eine Meersau, die der anderen Splittergruppe der Unheilvollen vorsteht). Sie hat gesagt, dass ich sagen soll, dass es Wilma (die Wühlmaus) war, wenn ich erwischt werde oder das Ganze irgendwie auffliegt.“ Mary-Jane holte tief Luft und fuhr fort:

„Mir hat das gar nicht gefallen. Aber ich wusste nicht, was ich machen sollte.“

„Arbeiten alle Feen für Minna?“, fragte ich.

„Nein. Karina und Yasmin sind diejenigen, die das tun …  Und sie suchen sich immer junge Feen wie mich für ihre Aufträge. Und dieses Resozialisierungsprogramm, was Yasmin angeblich leitet und von dem Snowflake so begeistert war – das gibt es gar nicht. Ja, es gibt eine Gruppe, aber in der bildet uns Yasmin für die Arbeit als Spioninnen aus. Das mit dem Programm war nur eine große Show für Snowflake“, bei dem Namen Snowflake schossen ihr die Tränen in die Augen. Offenbar hatte sie meinen besten Freund liebgewonnen.

 

„Und dann habe ich vor ein paar Wochen oder so ein Gespräch zwischen Karina und Minna belauscht. Sie unterhielten sich über eins dieser Funkgeräte, die ihr auch habt. Karina wird langsam schwerhörig, daher hatte sie es auf laut gestellt – und ich konnte zuhören“, sie schluckte. Mascha, die offensichtlich ihre mütterliche Seite wieder gefunden hatte, sah die kleine Fee an und sagte sanft:

„Erzähl uns einfach alles. Rede es dir von der Seele, ok? Wir werden dir nichts tun, aber ich muss wissen, was mit Snowflake passiert ist.“

Mary-Jane nickte zögerlich: „Es ist so furchtbar, was Karina gemacht hat. So … ich habe gar kein Wort dafür. Ich mag Snowflake und so habe ich nach diesem ersten belauschten Gespräch angefangen, Yasmin und Karina auszuspionieren. Und …“, erneut musste sie tief Luft holen, um weitersprechen zu können: „Also, wenn ich alles richtig verstanden habe, ist es so gewesen: Karina hatte den Auftrag von Minna, erstmal Snowflakes Vertrauen zu gewinnen. Das ging ziemlich schnell. Weil sie natürlich ganz starke Magie eingesetzt hat, um ihn in ihren Bann zu ziehen. In dem Gespräch, das ich belauscht habe, sagte Minna, Karina solle ihm eine Falle stellen. Sie sollte ihn mit einer Lüge in die Nähe von Neros Unterschlupf locken. Karina hat ihm was von nem Informanten erzählt – und Snowflake hat ihr natürlich geglaubt, obwohl es den gar nicht gibt, und war sofort bereit, mit ihr ins Bergland zu reisen. Sie hat gesehen, dass er an euch schreibt – und zwei Krähen losgeschickt, die Schnecken anzugreifen, damit die Briefe nicht bei euch ankommen. Und sie hat Nero informiert. Ja, sie hat sich auch bei Nero eingeschleimt. Der denkt, Karina ist auf seiner Seite. Nicht auf Minnas. Das nennt sich Maulwurf, glaube ich (Jupp, und auf Social Media U-Boot). Sie hat ihn auch mit Magie verzaubert und ihm dann eingeredet, dass er gegen euch ein Druckmittel hätte, wenn er Snowflake gefangen nehmen würde – und so von euch alles Mögliches verlangen könnte. Karina war natürlich klar, dass ihr auf so etwas nicht eingehen würdet. (Stimmt, wir hätten uns nicht erpressen lassen. Verbietet allein schon irgendeine Regel.) Sie spekulierte genau wie Minna darauf, dass ihr Neros Bande angreifen würdet, um Snowflake zu befreien – und dabei Minna den Gefallen tun würdet, ihren Konkurrenten auszuschalten, denn Neros dezimierte Bande hätte gegen euch keine Chance gehabt. Sie hatte sogar vor, euch selbst von der Gefangennahme zu erzählen, damit ihr keinen Verdacht schöpft, dass sie mit drinhängt und Nero keine Zeit gehabt hätte, sich auf einen eventuellen Angriff von euch vorzubereiten.“

 

Was für ein widerlicher, perfider Plan! Und erschreckend, wie gut Frau Oberfee uns Tiere aus dem Zauberwald einschätzen konnte. Hätte sie uns über den Aufenthaltsort von Neros Bande informiert, ohne Snowflake in die Falle zu locken, hätten wir diese lediglich ausspioniert und beobachtet und auf eine Möglichkeit gewartet, sie festzunehmen. Hatte Nero aber unseren Chefdiplomaten und den allerbesten Schneeleoparden aller Universen und Zeiten in seiner Gewalt, nun, … Doch irgendwas musste schiefgelaufen sein, denn den zweiten Teil des Plans, uns von Snowflakes Gefangennahme zu informieren, hatte Karina nicht umgesetzt. Der Klumpen aus Angst und Sorge in meinem Magen war während des Gesprächs mit Mary-Jane immer größer geworden. Was war meinem besten Freund geschehen?

 

Doch leider wusste Mary-Jane weder das noch warum Karina den Plan abgebrochen hatte.

„Ich weiß nur, dass Karina sich seltsam verhalten hat, als sie zurückkam, aggressiv und nervös. Das war überall im Feenwald zu spüren. Deswegen haben sich die meisten Feen in ihre kleinen Häuser zurückgezogen. Ich glaube, dass Karina panische Angst hatte – vor euch oder vor Minna. Jedenfalls hat sie verstärkte Sicherheitsvorkehrungen angeordnet, in Form von magischen Barrieren rund um den Feenwald.“

Ah! Deswegen war also die einzige Fee, der wir im Feenwald begegnet waren, so entsetzt gewesen, uns so sehen. Springs lustiger Sternenzauber hatte wohl dazu geführt, dass wir die Barrieren durchbrechen konnten. Interessant.

 

Mary-Jane, so berichtete sie uns weiter, war so kreuzunglücklich und in Sorge um Snowflake gewesen, dass sie Karinas Abwesenheit genutzt hatte, um ihr Büro zu durchsuchen.

„Es tut mir leid“, sagte sie leise und sah Mascha zum ersten Mal direkt an, „ich hätte euch Bescheid sagen müssen. Ich habe mich nicht getraut …“ Sie brach ab.

„Das sind Pläne vom Bergland. Da ist eingezeichnet, wo sie sich mit Neros Bande treffen wollte. Damit müsstet ihr Snowflake finden.“ Sie streckte Mascha die Papiere entgegen, die sie in den Händen hielt.

„Danke, dass du es uns jetzt erzählt hast“, antwortete Spring, allerdings sehr verhalten. Mascha und ich schwiegen. Unsere Sorge um Snowflake war zu groß, um ihr gebührend Respekt zu zollen für ihren eigentlich mutigen Schritt und ihre Spionagefähigkeiten.

 

So studierten Mascha und ich rasch die Pläne, während Spring versuchte, über magischen Funk Maxi zu erreichen, um sie zu informieren und vor allem um Verstärkung anzufordern. Ohne Erfolg. Das Netz war offenbar gestört. Ja, in eurer Welt mag das normal sein, hin und wieder oder in bestimmten Gegenden keinen Empfang zu haben. Bei uns ist das sehr ungewöhnlich.

„Ist das auch Karinas Werk?“, fragte ich Mary-Jane genervt, die stumm nickte. „Kannst du das rückgängig machen?“ Nächste Frage an die zusammengesunkene Fee. Kopfschütteln. Verflixter Feenstaub.

„Ok“, überlegte Spring laut, „dann spring ich zurück in den Zauberwald und hole Hilfe und ihr wartet …“

 

Sie kam nicht dazu, zu Ende zu sprechen. Mascha hatte ihr gar nicht mehr zugehört, sondern war losgesprungen. „Schätze, sie will hierhin“, stöhnte Spring verzweifelt auf und deutete mit der Pfote auf das Kreuz auf einer Karten, das Karinas (und Snowflakes) Treffpunkt mit Nero und seiner Bande markierte. „Dann nix wie hinterher!“, rief ich und schnappte mir die Karten und sprang ebenfalls los. Mascha allein im Bergland … das ging einfach nicht, egal, wie gefährlich es war, dort nur zu dritt aufzuschlagen.

 

 

Foto. Eine Art felsige Plattform umgeben von großen felsigen Bergen.
Noch einmal das Bergland (freies Foto von Pexels).

Das Bergland – wie der Name schon sagt, besteht die Gegend hauptsächlich aus riesigen Gebirgsketten. Tagsüber brennt die Sonne auf die Landschaft herab, nachts wird es eisekalt und es regnet in Strömen. Das Gebiet ist vor allem die Heimat der Trolle.

 

Innerhalb eines Sekundenbruchteils durch Raum und Zeit reisend landete ich auf einer spärlich mit Gras bewachsenen Ebene umsäumt von hohen Bergen. Schon beim ersten schnellen Blick über die Landschaft gefror mir das Blut in den Adern. Teile der Ebene waren komplett verwüstet worden. In der Mitte klaffte ein Krater, an dessen Rand Mascha stand und neben der Spring in dieser Sekunde landete.  An der von uns aus rechten Seite des Kraters türmten sich Geröll, Erde, Grasbüschel und Steine auf. Davor, dort wo meine Begleiterinnen gelandet waren, gab es eindeutig Spuren eines Kampfes. Blutspuren. Büschel von Leoparden- und Katzenfell. An einigen Stellen glitzernder Feenstaub. Große Katze im Himmel. Geschockt lief ich zu Spring und Mascha hinüber, die beide Tränen in den Augen hatten.

 

Sanft stieß ich die beiden an: „Lasst uns hier erst mal verschwinden. In den Bergen gibt es laut Karinas Plänen Höhlen, wo wir uns verstecken können, um in Ruhe zu überlegen, was wir tun. Hier sitzen wir wie auf dem Präsentierteller und laufen Gefahr, dass uns Nero und seine Bande entdecken und angreifen.“

„Hast Recht“, stimmte mir Spring zu und nahm mir die Pläne ab, um einen Blick darauf zu werfen. „Hier liegt das Quartier von Nero“, sie tippte mit der Pfote auf eine Stelle, „recht weit oben in den Bergen. Ich denke, wir sollten uns schon mal in diese Richtung wenden. Wir können auf halber Höhe übernachten und in den frühen Morgenstunden statten wir Nero einen Besuch ab. Kommt.“

Spring und ich machten Anstalten, uns in Bewegung zu setzen, doch Mascha rührte sich nicht. Sie saß kerzengerade mit geschlossenen Augen da, den Kopf in die Luft gestreckt, als würde sie versuchen, etwas zu wittern.

„Mascha, komm“, forderte Spring sie auf. Diese tauchte aus ihrer Versunkenheit auf und lief tatsächlich los. Allerdings in die entgegengesetzte Richtung.

„Nein, warte“, rief Spring, „zu Neros Quartier geht es da entlang.“

Doch Mascha drehte im Laufen nur kurz den Kopf zu uns und erwiderte sehr bestimmt: „Mag sein. Aber wir müssen in diese Richtung.“

„Kannst du Snowflake hören?“, fragte ich aufgeregt, ihr ein paar Schritte hinterher tapsend, und meinte natürlich ihr magisches Gehör.

„Nein. Aber wir MÜSSEN diese Richtung einschlagen“, Mascha blieb stehen und sah uns ungeduldig und ein wenig verzweifelt-flehend an.

 

Nun, gut, dann also da lang. Rasch folgten Spring und ich Mascha, die mit großen Sprüngen die Ebene durchquerte. Schon währenddessen setzte das unangenehme Gefühl ein, dass wir beobachtet wurden. Als wir endlich den Fuß des Berges erreicht hatten und einen schmalen Pfad hinaufkletterten, wurde das Gefühl immer stärker und stärker. Mascha lief seltsam zielstrebig voran, als würde sie von einer unsichtbaren Kraft gezogen, immer höher den Berg hinauf. Ich hatte beschlossen, mich nicht mehr zu wundern, und hoffte, dass sie irgendwie wusste, was sie tat. Doch es fing langsam an zu dämmern und ein eisiger Wind zog auf. Bis der Regen einsetzte, würde es nicht mehr lange dauern. Egal, wohin Mascha wollte (und warum), es war viel zu gefährlich, mitten in der Nacht durch das Bergland zu laufen.

 

 

„Wir brauchen dringend einen Unterschlupf“, mit diesen Worten überholte ich zunächst Spring und dann Mascha und flitzte voran, in der Absicht, uns eine Höhle zum Übernachten zu suchen. Das Konditionstraining der letzten Wochen hatte sich jetzt schon bezahlt gemacht, dachte ich erfreut, als ich um die nächste Biegung preschte und abrupt und entsetzt eine Vollbremsung machen musste.

 

 

Foto eines Leoparden, der auf Felsen liegt, Kopf und Schultern aufgerichtet. Guckt genau in die Kamera.
Wer das ist, erfahrt ihr im Text. (Freies Foto von Pexels)

Nur wenige Meter vor mir auf dem schmalen Weg, vor dem Eingang einer Höhle, stand ein riesiger fremder Schneeleopard – mit gefletschten Zähnen fauchend und eindeutig zum Angriff bereit. Ach, du grüner Troll! Da befanden sich etwa 60 Kilo, eindeutig schlecht gelaunte Muskelmasse vor uns – vermutlich der Grund für mein ungutes Gefühl, beobachtet zu werden.

 

Dann überschlugen sich die Ereignisse. Ich rief dem Muskelpaket unsinnigerweise zu, dass wir nicht vorhatten, ihm etwas zu tun. Als ob wir das könnten … Gleichzeitig schleuderten Mascha und Spring von hinten jeweils einen magischen Energiestrahl los. Wohl um den Kerl zu stoppen oder uns zu schützen, keine Ahnung, denn die Energie verpuffte wirkungslos, als sie auf den Leoparden traf. Stattdessen richtete er sich auf den Hinterbeinen zu voller Größe auf und setzte eindeutig zu einem magischen Angriff an. Ich sah schon unser letztes Stündlein geschlagen, als eine Stimme aus der Höhle ertönte:

 

„Nein. JP. Nein. Warte.“

 

Eine vertraute Stimme. Eine sehnlichst vermisste Stimme. Der mit JP angesprochene sank auf alle vier Pfoten zurück, während sich ein Kopf aus der Höhle schob.

 

Snowflake.

 

Ich starrte mit offenem Mund auf meinen besten Freund. Unfassbar! Ob Mutterinstinkt, Intuition oder Vorahnung – Mascha hatte uns tatsächlich in die richtige Richtung geführt. Das zeigt mal wieder, wie wichtig es ist, auf unsere Antennen, Gefühle, Ahnungen – unsere innere Stimme – zu hören, selbst wenn dies jedweder Logik zu widersprechen scheint.

 

Hinter mir schrie Mascha auf, stürmte an mir und dem massigen Leoparden vorbei, gefolgt von Spring, in Richtung ihres Sohnes und begann eben jenen von oben bis unten abzuschlecken, als wäre er noch ein Baby. Auch Spring, Snowflake und ich waren vor lauter Wiedersehensfreude völlig aus dem Häuschen und so redeten wir alle laut durcheinander.

 

Schließlich räusperte JP sich: „Ich möchte ja nicht stören, aber der Regen wird gleich losgehen und nachts ist es hier nicht besonders sicher. Ich würde vorschlagen, dass wir in meine Höhle gehen.“

Seine leise, fast schüchtern klingende Stimme stand in einem eklatanten Widerspruch zu seinem Muskelprotz-Aussehen. Wir folgten ihm in sein Versteck und er entzündete ein kleines magisches Feuer in der Mitte der recht großen Höhle, um das wir uns versammelten. Mascha dicht an ihren Sohn geschmiegt. Erst jetzt im Schein der flackernden Flammen sah ich, in welchem Zustand Snowflake sich befand: Sein ganzer Körper war übersäht mit tiefen Verletzungen von magischen Energiestrahlen, sein linkes Vorderbein war eindeutig gebrochen und er wirkte schmal und kraftlos. Am Kopf befand sich eine große Platzwunde. Zwar hatten die Wunden begonnen, sich zu schließen, das heißt, seine Selbstheilungskräfte waren unbeschädigt geblieben, doch es war unübersehbar, dass er einen schweren magischen Angriff erlebt hatte.

 

„Was ist passiert?“ – „Wie seid ihr hierhergekommen?“, fragten Spring und Snowflake gleichzeitig.

„Ihr zuerst“, forderte mein bester Freund uns auf – und Spring informierte ihn über alles, was passiert war und was wir herausgefunden hatten.  

Als sie geendet hatte, herrschte einen Moment lang Schweigen in der Höhle, dann begann Snowflake leise zu sprechen.

„Das passt. Allerdings glaube ich nicht, dass Nero vorhatte, mich nur gefangen zu nehmen. Schätze, er hatte seine eigenen Pläne und war doch nicht so stark von Karinas Magie beeinflusst, wie sie glaubte. Blutrünstig, wie er schon immer war, wollte er mich einfach töten. Da bin ich mir sicher. Er und seine Bande griffen an, kaum dass Karina und ich die Ebene betreten hatten, nicht nur mich, sondern auch Karina. Mit voller Wucht und von allen Seiten. Karina konnte sich in die Luft retten, tat aber nichts, um mir zu helfen. Ich wehrte mich so gut, ich konnte. Aber meine Kräfte waren wie blockiert. Ich vermute, von der Feenmagie, unter der ich seit Wochen stand. Schließlich sollte ich als ausgewachsener magischer Schneeleopard doch eigentlich in der Lage sein, mich gegen fünfzehn oder zwanzig Katzen zu wehren. Aber ich hatte keine Chance. Ich lag schon am Boden, da feuerte Nero einen Energiestrahl auf mich ab, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Feuerrot, blitzschnell. Keine Chance, ihn abzuwehren. Ich wurde durch die Luft geschleudert und knallte etliche Meter weiter gegen ein paar Felsen. Bevor ich das Bewusstsein verlor, sah ich noch, wie Nero auf mich zusprang und kurz, bevor er mich erreichte, ein riesiger Schatten zwischen ihm und mir landete. Der Schatten begann auf der Stelle zu brüllen und entfachte dadurch einen unglaublichen Wirbelsturm, der alles erfasste, was sich in seiner Reichweite befand. Es ging unfassbar schnell. Katzen, Erde, Steine – alles flog gen Himmel und verschwand. Dann verlor ich das Bewusstsein. Aufgewacht bin ich erst vor zwei Tagen. Hier. In dieser Höhle. Bei Jean-Paul, kurz JP. Schätze, ich verdanke ihm mein Leben. Er war der Schatten.“ Bei den letzten Sätzen deutete er auf den riesigen Schneeleoparden, der verlegen wirkend auf seine Pfoten blickte.

 

„Der Krater auf der Ebene geht auf dein Konto?“, Spring fand als erstes die Sprache wieder und starrte JP fassungslos und bewundernd zugleich an.

„Ja“, murmelte dieser.

„Erzähle es ihnen“, forderte Snowflake ihn auf.

„Nun“, begann JP zögerlich. „Ich hörte das Kampfgeschrei und Snowflakes Schmerzensschreie hier in meiner Höhle und bin in die Ebene hinuntergesprintet, um zu schauen, was dort los ist. Ich kam gerade an, als Snowflake durch die Luft segelte und sah, wie dieser Kater, den ihr Nero nennt, zum Sprung ansetzte. Und dann ist es einfach passiert, obwohl ich mir geschworen hatte, diese Kraft nie wieder einzusetzen. Ich sprang vor Snowflake. Und begann zu brüllen. Das ist kein normales Brüllen. Es … ich … ich kann damit eine Art Hurrikan erzeugen, der alles, was von ihm erfasst wird, in eine andere Dimension schleudert.“ Er machte eine kurze Pause und fügte dann noch hinzu: „Diese Fee hat das übrigens alles beobachtet. Ich sah sie später hier noch einmal rumflattern.“

 

Ich fand als erstes die Sprache wieder: „Das heißt, Nero und seine Bande sitzen jetzt im Mittelalter oder so fest?“

JP zögerte mit der Antwort: „Sofern sie es überlebt haben, ja. Im Mittelalter, in der Zukunft oder in einer uns gänzlich unbekannten Dimension.“

„Hat das schon mal wer überlebt?“, fragte ich weiter.

„Angeblich ist das möglich, ja. Mein Großvater hatte dieselbe Fähigkeit und der hat davon berichtet. Es wusste nur niemand, selbst ich nicht, dass ich das auch kann. Bis … Nun, ich habe diese Kraft bisher nur ein einziges Mal eingesetzt. Aus Versehen. Als Jugendlicher. Und ich weiß bis heute nicht, ob diejenigen das überlebt haben. Ich bezweifele es, weil …“, er brach ab und schaute zu Boden. Und auf einmal war deutlich zu sehen, wie verletzlich dieser riesige Kerl war. Und wie jung, kaum älter als Snowflake mit seinen 140 Jahren.

„Du musst nicht weitererzählen, wenn es zu schwer ist“, schaltete sich Spring sanft ein. „Das Wichtigste ist, dass Snowflake dank dir noch lebt. Auch wenn er schon mal besser ausgesehen hat“, sie musterte unseren ramponierten Freund von oben bis unten.

JP nickte erleichtert, sah meine Liebste dankbar an und erklärte: „Och, vergleichsweise sieht er schon wieder richtig gut aus. Die Wunden heilen besser, als ich zunächst befürchtet hatte und die Gehirnerschütterung ist auch am Abklingen. Er sollte in ein, zwei Tagen reisefähig sein.“

„So lange bleiben wir hier“, entschied Mascha resolut, die die nächsten Wochen und Monate vermutlich nicht mehr von der Seite ihres Sohnes weichen würden.

 

Als Snowflake schließlich stabil genug war, kehrten er, Mascha und Spring gemeinsam mit JP in den Zauberwald zurück. Zu Pfote. Dimensionenspringen wäre für meinen besten Freund noch zu anstrengend gewesen. So cool das ist, es verbraucht unglaublich viel magische Energie. Ja, JP hatte tatsächlich zugestimmt, sein Einsiedlerleben im Bergland aufzugeben und sich uns Tieren aus dem Zauberwald anzuschließen, als Snowflake ihn darum bat. Zwischen den beiden scheint sich mehr als Freundschaft anzubahnen, meint Spring. Ich habe für so etwas ja kein gutes Gespür, aber wenn Spring das sagt … Doch dazu ein anderes Mal mehr.

Ich selbst sprang direkt zu Anna zurück, ich war lange genug abwesend gewesen.

 

Tja, ihr Zauberhaften, was ist noch offen, am Ende dieser langen Geschichte?

Ach, ja, Mary-Jane hatte nach unserem Absprung ins Bergland tatsächlich ihren ganzen Mut zusammengenommen und war in den Zauberwald geflogen, um Hilfe zu organisieren. Da wir die Karten aber mitgenommen hatten und Mary-Jane sich vor lauter Aufregung nicht an die Details darauf erinnerte, gestaltete es sich unmöglich, uns zu orten. Das magische Funknetz zu reparieren, dauerte ewig, sodass wir nach wie vor nicht erreichbar gewesen waren.

So entschloss sich Maxi, zunächst ein Sondereinsatzkommando in den Feenwald zu schicken, um Yasmin verhaften zu lassen und direkt in die Steinernen Gärten zu verbannen. Die jugendlichen Handlangerinnen dagegen bekamen eine zweite Chance, hatten sie doch wie Mary-Jane nicht aus Überzeugung gehandelt, sondern lediglich Karinas Befehle befolgt.

 

Die Feen haben sich auf Mary-Janes Bestreben hin unfassbar schnell neu organisiert. Kurzerhand schafften sie in einer Vollversammlung die Monarchie ab und wählten tatsächlich Mary-Jane zur ersten Präsidentin der Gemeinschaft der Feen. Schon lustig.

 

Wo Frau Oberfee steckt, ist derzeit noch unklar. Auch was sie zu diesem perfiden Spiel getrieben hat, bleibt leider im Reich der Spekulationen. Ich vermute, es ging wie immer um Macht und Ruhm. Trotzdem hoffe ich, dass wir sie irgendwann finden und ihre konkreten Beweggründe erfahren.

 

Und Minna, so vermute ich, wird ziemlich sauer sein, dass ihr Plan, Nero und seine Bande von uns vernichten zu lassen, nicht aufgegangen ist. Zwar ist sie ihre Konkurrent*innen erst mal los, doch es besteht immer noch die Möglichkeit, dass diese JPs Attacke überlebt haben und zurückkehren.

Eine Ungewissheit, die der magischen Meersau mit Sicherheit nicht gefällt.

Insofern verwundert es mich nicht, dass Karina den letzten Teil des Planes, uns zu informieren, nicht mehr ausgeführt und stattdessen versucht hat, den Feenwald zu sichern. Sie hatte garantiert panische Angst vor Minnas Reaktion.

 

Das war’s für heute, meine zauberhaften Leser*innen. Ich hoffe, ihr hattet Spaß an der Geschichte. Falls ja, freue ich mich über einen Kommentar hier oder auf meinen Social Media Accounts. Demnächst mehr aus dem Zauberwald … Wir lesen uns.

 

Es grüßt euch herzlich euer Merlin.

Kommentare: 4
  • #4

    Hartmut (Samstag, 31 August 2024 17:09)

    Hallo Merlin, dass war nun eine sehr langes Kapitel und mit vielen Wendungen versehen und überraschenden Erkenntnissen. Nun habe ich auch Ricky als dritte Innenperson kennen gelernt, auch wenn nur kurz war, scheint sie aber eine sehr nette Person zu sein.
    In dieser Geschichte ist ja ne Menge passiert. Bei dieser langen Geschichte möchte ich nicht soviel an Sachen hier sagen, weil ich dann Spoilern würde und anderen möglicherweise zu viel vorweg nehmen.
    Eine Sache hat mich aber schon sehr deutlich beschäftigt das mit dem Vertrauen nicht nur bei Menschen mit einer DIS, wo ich mir das noch viel schwerer vorstlle, auch in meinem Umfeld sondern auch das Vertrauen im Zauberwald mit allen seinen Beteiligten.
    Und ich war überrascht über Mary – Jane. Hier stellt sich eigentlich die Frage ist sie nicht auch eben ein Opfer oder doch ein Täter und kann man ihr irgendwann doch vertrauen? Obwohl sie ja nun vieles mit dazu beigetragen hat das ihr wichtige Information bekommen habt. Aber kann man ihr wirklich trauen? Es ist schwierig, bei so vielen Lügen, betrügen, Falschinformation und Wechsel von Spionen zuzeiten im Zauberwald.
    Na dann werde ich mal schauen, wie das alles so weitergeht. Ich danke dir Merlin und Grüße an Anna und allen andern, sind ja mittlerweile immer mehr geworden aber man weiß ja Anna sind viele die ist nicht allein.�

  • #3

    firefly (Freitag, 03 November 2023 22:23)

    spannend - bin gespannt, wie es weiter geht

  • #2

    Ginny (Montag, 16 Oktober 2023 05:55)

    Ich liebe diese Geschichte genau wie den ganzen Blog.
    Besonders die Teile, wo du Sachen zu Trauma erklärst, sind so gut geschrieben.

    Dankbar, dass es dich gibt, lieber Zauberkater

  • #1

    @energiepirat (Sonntag, 15 Oktober 2023 21:43)

    Oh, lieber Merlin, da baut sich beunruhigendes auf und setzt auch mich beim lesen unter Spannung. Ich drücke mal alle Daumen. Ich binsicher, Ihr werdet das gemeinsam meistern. Sehr spannend.