16.1 Hoch im Norden - Freundin in Not

 

 

CN Ratten, Tod

 

 

KI-generiertes Bild. Ein See mit pinken und hellgrünen Bäumen am Ufer, blauem Himmel mit rosa Wolken.
Großer See, etwa eine Stunde vom Zauberwald entfernt.

Miau und hallo, meine zauberhaften Leser*innen,

 

wenige Wochen nach den Ereignissen, die ich euch in den Geschichten 13 bis 15 (siehe Inhaltsverzeichnis) erzählt habe, war Anna wieder so weit auf dem Damm, dass ich sie allein lassen konnte, um mit Spring ein Wochenende in der Magischen Welt zu verbringen.

 

Das Wetter war mit knapp 25 Grad und blauem Himmel mit einigen Wattewolken ideal dafür, an einem wunderschönen See, eine Stunde vom Zauberwald entfernt, wenn eins Richtung Gnom-Tal wandert, die Seele baumeln zu lassen.

 

Also – eigentlich – waren das tolle Voraussetzungen für zweieinhalb freie Tage. Spring hatte sich von Socke ein pinkfarbenes Schlauchboot ausgeliehen – und wollte das unbedingt mit mir direkt Samstagmorgen kurz nach Sonnenaufgang ausprobieren. Wir hatten bereits die Nacht am See verbracht. Woher Socke dieses Boot hatte, wollte ich, ehrlich gesagt, nicht wissen. Auch wenn wir im Zauberwald so einiges von euch Menschen übernommen haben, bunte, luftgefüllte Plastikboote gibt es bei uns nicht. Ich traute diesem Gefährt nicht so ganz im Gegensatz zu Spring, die ganz wild darauf war, sich ein paar Stunden im Wasser treiben zu lassen.

 

Auch ihr Satz, „Lass einfach die Krallen drin, dann passiert nichts“, beruhigte mich nicht wirklich. Im Gegenteil. So ließ sie mich fürsorglich an Land einsteigen, gab dem kleinen bunten Boot mit Hilfe von etwas Magie einen ordentlichen Schubs und sprang dann selbst hinein. Bei ihrer Landung schaukelte das Ding fürchterlich und ich sah mich schon, wieder einmal, ins Wasser fallen. Doch Spring stabilisierte es rasch, erneut mit Hilfe von Magie.

 

Und ehrlich gesagt, nachdem ich mich an das Geschaukel gewöhnt und mich der Länge nach ausgestreckt hatte, fand ich es unfassbar schön. Innerhalb von Minuten fiel der gesamte Stress von mir ab und Spring und ich dösten nebeneinander liegend ein.

 

Bis mein magisches Funkgerät schrill piepsend die angenehme Stille durchbrach. Spring und ich schreckten gleichzeitig hoch.

„Du hast das angelassen? Wir haben doch frei?“, Spring klang verschlafen.

„Weißt du doch. Wegen Anna.“

 

Dank der ganzen neuen Technik, die ich besaß, hatte ich eine Möglichkeit gefunden, dass Anna mich auch dann erreichen konnte, wenn ich in der Magischen Welt unterwegs war. Mein eigenes Handy, das ich seit den Ereignissen in Ein chaotischer Sommertag besaß, hatte ich bei Tasso gelassen. Zwar beherrschte er nur die Hundesprache, aber die Fähigkeit zu lesen, war ihm, wie wisst (Geschichten 7 bis 9; siehe Inhaltsverzeichnis), ja geblieben. Und so war es ein leichtes gewesen, ihm SOS beizubringen. Im Notfall konnten Anna & Co also Tasso an mein Handy „SOS“ schreiben – und er würde mich über sein magisches Funkgerät informieren. Warum ich Anna nicht einfach ein solches beschaffte? Nun, eins muss magisch sein, um es benutzen zu können oder zumindest noch Reste von Magie beherrschen wie Tasso.

 

Auf diese Art und Weise würden Anna und ich hoffentlich nie mehr in eine Situation geraten wie in Heimweh, als sie im Krankenhaus landete und ich erst Wochen später davon erfuhr.

  

Eine eklatante Verbesserung von Annas Krisen- und Notfallplan, wie wir beide fanden. Auch wenn es ihr im Moment etwas besser ging, Krisen können jederzeit eintreten. Ein ungutes Ereignis im Außen, Stress im Innen …

 

 

Foto eines schwarzen Katers mit gelben Augen, der direkt und streng in die Kamera schaut. Es ist nur sein Kopf und nur ganz wenig vom Körper zu sehen.
Freies Foto von Pixabay.

Fängt eins dann erst an zu überlegen, was jetzt helfen könnte, ist es meist zu spät. Besser ist es, sich vorab und grundsätzlich ein paar Gedanken zu machen, Ideen zu sammeln, was eins tun kann, wenn es eine Krise gibt, und es aufzuschreiben (auf einer Liste, die gut sichtbar irgendwo hängt, einem Zettel für die Hosentasche, im Handy, Karteikarten, laminiert oder auch nicht – was immer für euch am besten geeignet ist), eventuell auch nach Art und Heftigkeit der Krise unterschieden.

 

Es gibt keine allgemeingültigen Tipps, was hilft und damit auf eine solche Liste gehört, außer: wichtige Telefonnummern/Mailadressen, um gegebenenfalls Hilfe von außen zu bekommen, und jene Grounding- und Orientierungsübungen, die für euch am besten geeignet sind.

 

Annas grober Plan sieht folgendermaßen aus; vielleicht hilft ein konkretes Beispiel ja jenen, die damit noch nicht so viel Erfahrung haben:

  1. Merlin (Handynummer)
  2. Kakao machen
  3. Coolpack oder Wärmflasche, je nach Situation
  4.  Kuscheltier für die Kleinen
  5. Sich mit all dem auf den Fußboden setzen und schreiben, sortieren, checken, wer innen in Not ist und was sich da tun lässt. (Für Anna geht das mit Bodenkontakt am besten. Erdet sie, glaube ich.)
  6. Checken, ob es Hilfe von außen (ABW oder Therapeutin) braucht, um die auslösende Situation (z.B. ungute Post vom Amt) zu klären. (Namen und Telefonnummer hat Anna im Kalender und Handy, es kann aber sehr sinnvoll sein, die direkt auf dem Plan zu notieren.)
  7. Checken, ob es hilfreich wäre mit einem befreundeten Menschen (oder Kater, miau) zu reden. Schauen, wer passt.
  8. Vorsichtig versuchen zu erden, zu orientieren und Anteile zu beruhigen. Dahinter hat Anna einige Beispiele notiert: Atmen, durch die Wohnung laufen, auf den Balkon gehen und dabei alles genau anzuschauen, an Duftölen riechen, bewusst stehen und den Boden spüren und noch einiges anderes.
  9. Checken, ob Ablenkung helfen könnte und wenn ja, welche. (Hier hat Anna dann verschiedene Möglichkeiten notiert.)
  10. Bedarfsmedikation, falls nötig
  11. Tagespläne für die nächsten Tage anpassen, sofern möglich.

Bei all dem unterstütze ich Anna natürlich, mit Magie greife ich, wie ihr wisst, eher selten ein.

 

Ich bin vor allem eins: da.

 

Für den Fall, dass es unterwegs krisenhaft wird, besitzen Anna und Co ein Mini-Stofftier und einen Mini-Igelball, die immer im Rucksack sind, sodass sie nicht versehentlich vergessen werden können. Die Telefonnummern sind im Handy gespeichert und Anna achtet penibel darauf, dass das auch geladen ist, wenn sie das Haus verlässt. Und sie hat immer genug Geld für ein Taxi dabei, um im Zweifel erstmal sicher nach Hause zu kommen. Jedenfalls sofern es die finanzielle Situation zulässt.

 

Hier und soweit ich weiß auch bei vielen anderen Menschen, die Viele sind, gibt es natürlich Unterschiede, was in einer Notsituation hilfreich ist. Bei Sarah z.B. braucht es, neben meiner Wenigkeit, in aller Regel schnell einen Menschen am Telefon.

 

Länger andauernde Krisenzustände brauchen besondere Strategien. Hier ist es das Wichtigste, soweit es geht, den Alltag dementsprechend anzupassen.

 

Und wenn wir schon bei Plänen sind: Schwierige Situationen vorab gut vorzubereiten, kann ebenfalls sehr hilfreich sein, um die Gefahr von Krisen zu minimieren. Und zwar nicht nur die Situation selbst, sondern auch die Zeit davor und vor allem danach. Letzteres vergisst Anna leider oft, wenn kater oder mensch sie nicht daran erinnert, mau. Hatten wir gerade erst. Mal wieder.

 

 

KI-generiertes Bild. Schwarze Katze mit gelben Augen sitzt in einem pinken Schlauchboot auf einem See.
Meine Wenigkeit in diesem Schlauchboot, miau.

Wie ihr gesehen habt, stehe ich zusammen mit meiner Handynummer ganz oben auf der Liste und ging daher schnell an das Funkgerät. Doch es war nicht Tasso, sondern Maxi.

 

Verflixter Feenstaub. Also doch die Arbeit. Miau. Sie beorderte mich sofort in den Zauberwald, murmelte etwas von seltsamer Schneckenpost, die für mich angekommen wäre. Den Rest verstand ich nicht. Die Verbindung auf dem See war recht mies. Aber das „Sofort“ war deutlich hörbar und vor allem unmissverständlich gewesen. Miau.

 

Ich informierte Spring, die für einen Moment traurig guckte, dann seufzte und mit der Bemerkung „Hilft ja nix“ anfing, das Boot mit Magie in Richtung Ufer zu steuern.

 

Eine gute Stunde später betraten wir den Versammlungsplatz im Zauberwald, wo Maxi uns erwartete. Sie überreichte mir grimmig guckend zwei Briefe. Der eine befand sich in einem eindeutig magisch versiegelten Umschlag. Der zweite war ein zusammengerolltes Blatt Papier, so wie wir normalerweise unsere Briefe verschicken. In diesem stand lediglich, dass der eigentliche Brief ausschließlich von mir geöffnet werden könne – und zwar ausschließlich mit „unserem Motto“. Keine Unterschrift. Als einziger Hinweis auf das „Motto“ war das Wort „Baumhöhle“ angegeben. Na, großartig. Ich stand vollkommen auf dem Schlauch.

 

Dass Maxi, Spring und Pat, der inzwischen hinzugekommen war, mich erwartungsvoll anstarrten, machte die Sache nicht besser. So, meine Zauberhaften, kann ich nicht denken. Daher schnappte ich mir beide Briefe, murmelte, dass ich nachdenken müsse, und verzog mich zu meinem kleinen Teich, zu dem ich von Kindespfoten an ging, wenn ich allein sein oder ein Problem lösen musste. Doch es wollte nicht „klick“ machen. „Unser Motto“. Mir fiel dazu rein gar nichts ein. „Baumhöhle“. Baumhöhlen gibt es zuhauf in der Magischen Welt. Ich grübelte und grübelte und schlief schließlich darüber ein. Ein wirrer Traum ließ mich nach einem halben Stündchen hochschrecken. Hellwach stand ich auf meinen vier Pfoten und wusste es. Wusste, von wem der Brief war und wie dieses Motto lautete.

 

Unfassbar.

 

Nach all den Jahrzehnten.

 

Kurzentschlossen presste ich die linke Vorderpfote auf das Siegel und sprach klar und deutlich: „Und dann erobern wir die Magische Welt“.

 

Tadaaa, ich hatte richtig gelegen.

 

Der Briefumschlag öffnete sich.

 

Jene unter euch, die die Geschichte Schneesturm gelesen haben, wissen vermutlich spätestens jetzt ebenfalls, von wem der Brief stammte, nicht wahr? Die Geschichte habe ich euch im Dezember 2023 erzählt – und nur ein halbes Jahr später trudelte Post von ihr ein.

 

Gemiau, der Brief war von Clementina, jener kleinen Schneehäsin, mit der ich einst während eines Schneesturms die Nacht verbrachte. Gut, klein war sie nun mit Sicherheit nicht mehr. Das Ganze ist schließlich etwa 190 Jahre her.

 

Äußerst gespannt begann ich zu lesen:

 

„Lieber Merlin,

ja, ich weiß, es ist ungewöhnlich, dass ich mich nach so langer Zeit bei dir melde. Es tut mir leid. Ich habe oft an dich gedacht und es doch nicht auf die Reihe bekommen, mich bei dir zu melden.

Auch wenn ich seit langem nicht mehr im Zauberwald lebe, habe ich die Ereignisse rund um die Unheilvollen und deine Rolle dabei im letzten Jahr dank deines Blogs verfolgt. Ja, ich verschlinge geradezu jede Geschichte von dir, nachdem ich davon erfahren habe. Jedenfalls – ich bin mir sehr sicher, dass ich vor ein paar Tagen eine Entdeckung gemacht habe – genauer gesagt, nicht ich, sondern die mittlere Tochter meiner Lebensgefährtin, die gleiche, die auch über deinen Blog gestolpert ist –, die in diesem Zusammenhang von Relevanz sein könnte. Bitte verzeih, dass ich das so umständlich schreibe, aber ich traue seit langem keinem Tier im Zauberwald mehr. Vor allem nicht Konrad. Hätte ich mich korrekt ganz offiziell an den Vorstand gewandt, hätte er mit Sicherheit davon erfahren. Von daher behalte diese Zeilen bitte für dich. Nichts an Maxi oder Pat.

 

Worum es genau geht, möchte ich dir nur persönlich sagen. Ich habe auf zu harte Tour gelernt, wie schnell eins auf der Magischen Welt in eine Falle laufen kann. (Ich hatte keine Ahnung, was sie damit meinen konnte, aber es tat mir weh, es zu lesen.)

 

Bitte komm so schnell wie möglich ins Schneeland. Dort lebe ich seit zwanzig Jahren. Nimm von der Glitzerbrücke aus den Weg, der ins Landesinnere führt, und warte an der ersten Wegkreuzung auf mich. (Was für eine Brücke? Ich und Geografie! Ihr kennt das Problem ja mittlerweile.) Spring darfst du mitbringen. Glückwunsch, mein Lieber, sie klingt ganz entzückend. (Ja, das ist sie, miau.) Wenn du ihr vertraust, tue ich das auch. Aber wie gesagt: Kein Wort an Maxi und schon gar nicht an Konrad. Ich werde die Kreuzung in den nächsten Tagen gut beobachten, um eure Ankunft nicht zu verpassen.

Bitte lass mich nicht im Stich.

Liebe Grüße

Clementina“

 

Dreimal verflixter Feenstaub. Das klang erstens nicht gut und zweitens sehr mysteriös. Noch während ich überlegte, wie ich, ohne Maxi einzuweihen, in das Schneeland kommen würde, hörte ich ein leises Rascheln in den Büschen hinter mir und das vertraute Pfotentapsen von Spring.

 

„Wollte mal nach dir sehen“, sie sah mich gespannt an.

 

Rasch setzte ich sie in Kenntnis. Wenigstens das hatte mir Clementina ja erlaubt.

 

„Wie zur Großen Katze im Himmel kommen wir, ohne Maxi einzuweihen, ins Schneeland? Wie kommen wir überhaupt ins Schneeland?“, schloss ich.

 

Spring rollte mit den Augen: „Das erste lass meine Sorge sein. Das zweite erkläre ich dir, wenn ich mit Maxi gesprochen habe. Warte hier auf mich.“

 

Schon drehte sie wieder um und verschwand.

 

Das Schneeland, meine zauberhaften Leser*innen, liegt ganz im Norden unserer Welt. Zwischen dem Landteil, auf dem der Zauberwald liegt, und dem Schneeland fließt der Glitzer-Strom. Ich merke, ich muss euch dringend mal eine Karte von der Magischen Welt zeigen, damit ihr eine bessere Vorstellung davon bekommt. Das wäre jedenfalls ein langer Marsch vom Zauberwald aus – und wir müssten am Ende das komplette Bergland mit seinen Trollen durchqueren. Wie wir dann über den Strom kommen sollten, war mir völlig unklar. Diese Glitzerbrücke war mir kein Begriff. Ich war nur einmal so weit im Norden gewesen – eine Brücke war mir an der gesamten Küste nicht aufgefallen.

 

Zumindest ist Sommer, dachte ich, während ich mir mit Fellpflege die Zeit vertrieb, im Winter liegt dort oben nämlich meterhoher Schnee bei eisigen Temperaturen. Jetzt sollten es wenigstens so zwölf Grad sein.

 

„Alles geklärt“, Springs Kopf tauchte aus den Büschen auf. „Ich hab Maxi erzählt, dass der Brief rein privater Natur ist. Und ein Tier, mit dem du befreundet bist, einfach deine Hilfe braucht.“

„Das hat sie geschluckt?“, ich war etwas verwundert.

„Erst mal ja“, erwiderte Spring. „Ich hab sie mit der Frage abgelenkt, warum Post an dich eigentlich bei ihr gelandet ist – und dass das mit dem Briefgeheimnis nicht so ganz vereinbar ist. Sie hat sofort die Schneckenzentrale angefunkt. Dort werden ja alle Zustellungen aufgezeichnet. Sieht so aus, als sei die Schnecke gestern, kurz nachdem wir bei mir aufgebrochen sind, an meiner Hütte angekommen. Und statt uns zu folgen, hat sie den Brief vor die Tür gelegt. Irgendwer hat ihn heute Morgen dort gefunden und zu Maxi gebracht. Sie ist immer noch dabei, die Zentrale zur Schnecke zu machen.“ Spring kicherte, ob ihres Wortspiels.

„Hm, aber das fliegt doch auf.“

 „Ach, wenn schon. Sollten wir im Schneeland etwas entdecken, über das wir sie doch informieren müssen, werden wir gaaaanz zufällig drüber gestolpert sein, während wir deine Freundin besuchen.“

Der Schalk blitzte in ihren Augen. Geschickt gelöst. Ich nickte anerkennend.

„Ich habe das Okay von Pat, dass wir über Annas Wohnung ins Schneeland springen dürfen. Maxi war ja noch beschäftigt und Pat steckt mit dem Kopf schon wieder in irgendwelchen Listen. Glaub, der weiß gar nicht, was er da abgesegnet hat. Aber von hier aus ins Schneeland zu reisen, macht halt überhaupt keinen Sinn. Du musst Anna ja eh noch Bescheid sagen und zudem würde es zu lange dauern. Auch wenn es mega ist, die Glitzerbrücke zu überqueren.“

 

Mega? Spring unterhielt sich eindeutig viel mit Ricky. Und …

 

„Was für eine Brücke überhaupt?“

„Hast du das nie gemacht? Es ist unglaublich. Du kennst die Stelle an der Küste, an der sich ein großer Felsen befindet, der aussieht wie ein Stern?“

„Ja“, gespannt wartete ich darauf, dass Spring fortfuhr.

„Nun, du kletterst auf den Felsstern – und springst. Vermeintlich ins Nichts. Du glaubst schon, gleich landest du im Strom. Doch urplötzlich taucht unter dir eine Art Brücke auf. Ein Bogen, der von diesem Stern bis zu seinem Gegenstück im Schneeland reicht – aus Glitzer. Dicht an dicht. Und du kannst einfach drüberlaufen. Es ist einfach unfassbar mega toll. Hinterher ist eins selbst voller Glitzer. Wunderschön, sag ich dir.“

 

Ich stellte zum 100.000sten Mal fest, dass ich die Theoriestunden in meiner Ausbildung durchaus hätte ernster nehmen sollen. Meine Wissenslücken sind schon manchmal recht groß. Allerdings konnte ich auf einen Sprung ins „Nichts“ über einem reißenden Strom, ob er nun glitzerte oder nicht, durchaus verzichten und so machten wir es, wie Spring vorgeschlagen hatte. Ich sprach zu Hause kurz mit Anna und informierte Tasso von den veränderten Plänen, während Spring Annas Vorratsschrank plünderte und Proviant einpackte. Nach nur einer Stunde waren wir startklar.

 

Dank Springs genauer Anleitung landeten wir beide nach dem Sprung durch die Dimensionen direkt neben dem Felsstern im Schneeland. Rasch fanden wir den Weg ins Landesinnere und folgten ihm bis zur ersten Kreuzung, so wie Clementina es geschrieben hatte. Obwohl die Sonne schien, war es frisch und ein stetiger Wind zerzauste uns das Fell. Die Landschaft war karg. Stoppeliges Gras, Weidenbüsche und erst in der Ferne, dort wo es bergiger wurde, Nadelbäume. Ein paar vereinzelte gelbe Blumen.

„Lass uns was snacken, bis Clementina kommt“, schlug Spring vor und inspizierte die Vorräte in ihrem Reisegepäck. Wir warteten lange und hatten mittlerweile in einem pieksigen Gebüsch Schutz vor dem Wind gesucht. Ein paar Mal dachte ich, weiße Hasenohren hinter einem der Sträucher drumherum aufblitzen zu sehen. Doch Clementina ließ sich nicht blicken. Erst als die Dämmerung hereinbrach, hörte ich eine Stimme rufen:

 

„Baumhöhle?“

 

Ich streckte den Kopf aus dem Strauch und sah mich um. Nichts.

 

„Und dann erobern wir die Magische Welt“, versuchte ich mein Glück. Und tatsächlich.

 

 

KI-generiertes Bild. Weißer Hase vor Gras und Weidenbüschen. Sitzt und schaut nach vorne. Ernst. Ohren sind aufgestellt.
Clementina

Nur Sekunden später hoppelte ein Schneehase auf uns zu, der sich ebenfalls in einem der Weidenbüsche versteckt haben musste. Clementina. Auch ich setzte mich in Bewegung und nur Sekunden später begrüßten wir uns, als hätten wir uns 190 Jahre lang nicht gesehen. Naja, miau, hatten wir ja auch nicht.

 

„Ich bin so froh, dass du gekommen bist“, Clementina blickte mich erleichtert an. Dann stellte ich ihr Spring vor.

„Kommt, lasst uns erst mal in meinen Bau gehen. Der Wind hat doch sehr aufgefrischt. Recht ungemütlich.“

 

Das stimmte, inzwischen stürmte es regelrecht und der Himmel hatte sich zugezogen. Clementina flitzte Haken schlagend los, Spring folgte ihr dicht auf den Fersen, ich wie immer hintendran. Nach nur wenigen Minuten erreichten wir eine Gruppe dicht stehender, blühender Weidensträucher. Clementina zwängte sich in die Mitte und dann in ein Loch im Boden. Der Zugang zu ihrem Bau. Für eine Katze recht eng, wie ich feststellte. Ich war froh, dass ich so zierlich bin. Spring hatte dagegen ganz schön zu kämpfen. Der Gang war ebenfalls nichts für klaustrophobische Katzen, erweiterte sich dann aber zu einer sehr geräumigen, urgemütlichen Höhle, von der weitere Gänge abgingen. Spring und ich konnten sogar wieder stehen. Sehr gut.

 

„Küche und Wohnraum“, erklärte Clementina uns. „Die Gänge führen zu den Schlafzimmern. Dort findet sich ein Plätzchen für euch, falls ihr ein Nickerchen machen wollt. Dilia, meine Lebensgefährtin, besucht mit Danny und Daisy, ihren beiden jüngeren Töchter, den Vater der beiden, der in der Nähe des Feenwaldes lebt. Debby ist hiergeblieben, ist aber auf Beobachtungsposten. Sie ist schon in der letzten Phase ihrer Ausbildung. Daisy beginnt ihre nächstes Jahr. Die kleine Danny hat noch zwei Jahre Zeit.“

 

Beobachtungsposten?

 

Doch bevor ich fragen konnte, kicherte Spring los: „Ich nehme an, die Väter haben auch Namen mit D?“

„Nein“, Clementina schüttelte den Kopf, sodass ihre Ohren um ihren Kopf flogen. „Dilia hat mit dieser höchst albernen Tradition, dass die Kinder Namen mit dem Anfangsbuchstaben des Namens des Vaters bekommen, gebrochen. Was ganz gut ist. Der Vater der beiden jüngeren heißt Xavier. Finde mal anständige Namen mit X. Und Debbys Vater war eine flüchtige Affäre. Den Namen kennt sie nicht mal. Also hat sie den Anfangsbuchstaben ihres Namens genommen.“

 

Bevor die beiden weiter über Namen quatschen konnten, fragte ich dazwischen: „Clementina, was ist eigentlich los?“

 

Clementinas eben noch offener Gesichtsausdruck verschwand. Sie wandte sich ab und murmelte: „Erzähle ich euch morgen, wenn wir aufbrechen. Wir sollten früh schlafen gehen. Ich würde gern noch vor dem Sonnenaufgang los. Aber lasst uns erst mal etwas essen.“

 

„Erklärst du uns wenigstens, warum du so vorsichtig bist?“, ich hakte nach.

 

Dieses Misstrauen passte so gar nicht zu der Clementina, die so liebevoll mit mir Springen geübt hatte, so lustig und freundlich und offen gewesen war.

  

Sie dreht sich wieder zu uns um. In ihren Augen stand Schmerz.

 

„Ich traue in erster Linie Konrad nicht“, sie brach ab. „Nein, das stimmt nicht. Eigentlich traue ich außer Dilia seit damals keinem Lebewesen mehr richtig.“

„Seit damals?“, behutsam fragte ich weiter.

„Erinnert ihr euch an den Diebstahl eines Teils des Goldes der Feen?“

„Ja“, Spring.

„Dunkel“, ich.

 

Das musste so ungefähr fünfzig bis sechzig Jahre her sein, schätzte ich. Ich erinnerte mich lediglich, dass Karina, die ehemalige Oberfee, damals im Zauberwald um Hilfe gebeten hatte, nachdem sie entdeckt hatte, dass eins der vielen Verstecke, in dem die Feen ihr Gold aufbewahrten, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion geplündert worden war. Ja, Kriminalität gibt es auch im Zauberwald. Vermutlich war Karina damals noch kein Mittier der Unheilvollen gewesen. Aber wer weiß das schon. Ich wusste nur, dass es gelungen war, das Gold zu finden und den Feen zurückzugeben, und dass sie seitdem den gesamten Goldschatz aus Sicherheitsgründen auf dem Grund der Unheimlichen Bucht aufbewahrten, bewacht von einem großen Kraken.

 

Spring jedoch wusste mehr:

„Nein, Große Katze im Himmel. Es war deine Mutter Cosima, die damals ums Leben kam, oder?“, sie sah Clementina entsetzt an.

Mir entfuhr ein Schreckensschrei. Nur zu gut erinnerte ich mich noch an diese großartige Häsin, die lange Zeit unsere Chefspionin gewesen war, auch wenn ich ihr tatsächlich nur einmal begegnet bin. Als Kind. An dem Morgen nach dem Schneesturm. Ich hatte immer gedacht, sie habe sich einfach zur Ruhe gesetzt und an Konrad, der lange ihr Stellvertreter gewesen war, übergeben. Zu meiner Verteidigung – ich war besonders im letzten Jahrhundert so damit beschäftigt, Menschen zu unterstützen, dass ich die Ereignisse auf der Magischen Welt oft nur am Rande verfolgt hatte.

 

„Ja“, Clementinas Stimme klang gepresst, als sie Springs Frage endlich beantwortete. „Konrad hatte einen Tipp bekommen, wo sich das Gold angeblich befand. Er überzeugte meine Mutter, dass sie das erstmal selbst überprüften. Es sollte in einer der Höhlen im Land der Riesen sein. Doch sie waren kaum dort angekommen, als sie von einer Bande Ratten angegriffen wurden. Jener Bande, die das Gold gestohlen hatte, wie sich später herausstellte. Meine Mutter starb, sie war von den Ratten schwer verletzt worden. Konrad dagegen war kein Härchen gekrümmt worden“, Clementina schnaubte, bevor sie weitererzählte.

„Er war schon lange scharf auf ihren Job. Das hat meine Mutter immer wieder berichtet. Sie wäre ihn gerne als Stellvertreter losgeworden, weil sie den Verdacht hatte, dass er ihre Arbeit des Öfteren heimlich torpedierte. Aber der damalige Vorstand fand sein Wissen als ehemaliger Unheilvoller zu wertvoll, um ihn zu feuern“, sie klang zynisch. „Auch nach den Ereignissen, die zu ihrem Tod führten, wurde uns nicht zugehört. Es wurde nie gegen ihn ermittelt. Obwohl das alles sehr verdächtig war. Denn Konrad floh während des Kampfes, angeblich um Hilfe zu holen. Und ließ meine Mutter allein, statt seine Fähigkeiten, die ihm mal den Beinamen ‚Killerkaninchen‘ eingebracht haben, gegen die Ratten einzusetzen. Obwohl sie schon verletzt gewesen sein musste. Als er mit der Verstärkung zurückkehrte, war sie tot und von den Ratten keine Spur. Es ist ein paar Wochen später gelungen, sie aufzuspüren und das Gold den Feen zurückzugeben. Meine Familie und ich waren uns sicher, dass er Cosima in eine Falle gelockt hatte, um sie loszuwerden. Mein Vater ist an ihrem Tod regelrecht zerbrochen. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Ich habe mich um ihn gekümmert, bis er vor zwanzig Jahren gestorben ist. Dann bin ich ins Schneeland gezogen. Weit weg von all dem. Meine Brüder hatten sich schon vorher vom Acker gemacht. Weder kamen sie mit Mamas Tod klar noch mit Papas Zustand. Unsere gesamte Familie ist an der Geschichte kaputtgegangen.“

 

Clementina brach ab. Spring und ich schwiegen. Unendlich bestürzt. Ich rutschte nah an Clementina heran, sodass sie meine Wärme spüren konnte, um meine Anteilnahme, mein Mitgefühl auszudrücken. Worte hatte ich in dem Moment keine.

 

Aber ich verstand Clementinas Verdacht gegenüber Konrad. Auch ich hatte ihm all die Jahre nicht so ganz über den Weg getraut. Verstand, warum sie den Brief mit Magie versiegelt hatte. Ich hoffte sehr, dass Maxi Springs Geschichte von der Freundin in Not geschluckt hatte und Konrad gegenüber nichts erwähnte.

 

„Ich hatte vor, fortan als Einsiedlerin zu leben“, Clementina, die sich gegen mich gelehnt hatte, sprach nun weiter. „Hier oben geht das gut. Aber dann zog vor ein paar Jahren Dilia in einen Bau ganz in der Nähe hier. Die Jüngste war gerade geboren. Erst waren wir nur Nachbarinnen und ich war nicht wirklich begeistert davon. Zuviel Trubel durch die Kids. Aber eines Abends, Debby war ziemlich krank und ich hatte angeboten, Dilia zu helfen … naja. An dem Abend hab ich mich verliebt. Und Dilia sich auch. Seit sieben Jahren sind wir jetzt ein Paar. Und seitdem ist das Leben wieder lebenswerter“, sie lächelte. „Aber als Daisy vor ein paar Tagen erzählte, was sie beim Spielen gesehen hatte, kurz vor ihrer Abreise, kam alles wieder hoch. Und ich hatte keine Ahnung, an wen mich wenden sollte. Und wie. Aber durch deinen Blog wusste ich, dass du mich nicht vergessen hattest … und …“, Clementina beendete den Satz nicht.

 

„Du hast das genau richtig gemacht“, Spring hatte im Gegensatz zu mir die Sprache wiedergefunden. „Und es ist völlig okay, wenn du uns erst morgen sagst, worum es geht. Alles in deinem Tempo.“

 

Und diese selbstverständliche Art von Spring, Lebewesen zu bestärken und Grenzen ohne jedes ‚Wenn und Aber‘ zu akzeptieren, liebe ich sehr an ihr.

 

„Ich denke, wir sollten uns jetzt alle erstmal stärken und was essen“, sie begann, in ihrem Lederbeutel nach dem Proviant zu suchen.

Ihren Pragmatismus liebe ich ebenfalls, miau. Und so verbrachten noch ein paar sehr gemütliche Stunden in Clementinas Bau mit Essen, Reden und in Erinnerungen schwelgend, bevor wir uns in den Nestern ihrer Stieftöchter zusammenrollten.

 

Tja, was dann am nächsten Tag alles passierte, erzähle ich euch im zweiten Teil der Geschichte. Ein bisschen Spannung muss ja schon sein, nicht wahr?

 

So war es das für heute. Wir lesen uns. Bis bald.

 

Wenn euch die Geschichte gefallen hat, könnt ich mir gerne hier auf dem Blog oder auf meinen Social Media Accounts einen Kommentar hinterlassen. Natürlich könnt ihr auch das Kontaktformular benutzen, miau. 

 

Es grüßt euch herzlich euer magischer Kater Merlin.

 

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Kommentare: 4
  • #1

    firefly (Sonntag, 07 Juli 2024 16:23)

    bin sehr gespannt, wie es weitergeht. die themen krisenpläne und grenzen setzen - und akzeptieren - machen eine spannende geschichte wie immer wunderbar trauma-informativ.

  • #2

    @energiepirat (Sonntag, 07 Juli 2024 19:35)

    Miau Merlin, was für ein interessanter Stoff. Total fesselnd. Ich muss das übermorgen nochmal lesen. Heute bin ist es spät, ich bin hungrig und morgen unterwegs. ich nicht mehr konzentriert und habe noch Bild davon. Es gefällt mir aber jetzt schon. Sehr spannend.

  • #3

    @energiepirat (Donnerstag, 11 Juli 2024 15:33)

    Lieber Merlin, ich habe mir nunendlich die Zeit genommen, die Geschichte noch mal zu lesen. Super spannend. Ich bin schon gespannt, wie das weitergeht. Ganz besonders lustig der Anfang mit dem Schlauchboot.
    Das erinnert mich an eine Begebenheit mit einem Wasserbett und einem Kater, den jemand vom Wasserbett herunterheben wollte. Das war ein Spass. 1.200 Liter Wasser die von 1. OG in das EG sickern.
    Mehr muss man da nicht sagen. Auf bald.

  • #4

    Hartmut (Montag, 02 September 2024 13:21)

    Hallo Merlin,
    das war wieder ein ganz heißer Kapitelabschnitt. Also erst einmal muss ich sagen, dass Spring schon ziemlich mutig ist. Naja, du auch, und dann ihr beide in einem zwar bunten Schlauchboot mit eingezogenen Krallen. Aber wie es so manchmal passiert: Es kommt ein Schreckmoment, und schon ist es passiert, die Krallen sind draußen. Wir sehen das ja schon an dem Funkgerät und der Informationsschneckenpost.
    Es ist schön von dir, dass du (ich lese das ja chronologisch) immer eine kurze, grobe Zusammenfassung von neuen Ereignissen bietest, wie zum Beispiel über die zauberhafte Clementine und wie du sie kennengelernt hast.
    Ich bin völlig auf ihrer Seite in der Frage, dass Konrad (Killerkanickel) bis heute ein falsches Spiel spielt. Und noch schlimmer oder besser gesagt trauriger ist, dass ihre Mutter bei diesem Einsatz ums Leben gekommen ist. Ja, Konrad hat die Mutter von Clementine über die Klinge springen lassen, auch wenn es nicht so einfach zu beweisen ist.
    Was immer wieder total lieb von dir ist, ist, dass du ganz bestimmte Sachen einfließen lässt, wie zum Beispiel die Notfallliste. Das habe ich auch. Besonders wichtig finde ich, dass man tatsächlich Taxigeld zurücklegen sollte. Ich weiß, dass meine Tochter, die zwei Kater hat, jederzeit ein Taxi holen kann, da sie selbst keinen Führerschein hat, wenn sie mich nicht erreichen kann. Denn versuch mal, mit zwei oder einem Kater mit den Öffis zum Tierarzt zu fahren. Aber selbst für sich kann das jederzeit mal nötig werden. Deswegen ist es toll, dass du da noch mal darauf hinweist.
    Auch schön, dass sich zwei Schneehäsinnen gefunden haben und diese Namensgeschichte verändert haben.
    Naja, der Tag ist noch lang – auf zu den nächsten Kapiteln. Gruß an Anna und Co. und bleib gesund! �