Miau und hallo, meine zauberhaften Leser*innen,
weiter geht’s mit dem Zweiteiler „Hoch im Norden“. Ich hoffe, ihr seid schon ganz gespannt!
Also, wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, am ersten Abend im Schneeland:
Nun, nach einer viel zu kurzen Nacht weckte uns Clementina früh, bereits zwei Stunden vor Sonnenaufgang. Sie sah genauso müde aus, wie ich mich fühlte. Ich hatte zwar tief, aber viel zu kurz geschlafen. In einem Hasenbau zu nächtigen, hat echt was. Es ist großartig, wie geborgen sich eins in einem solchen fühlt – kuschelig warm, gut geschützt und dicht bei den Lebewesen, die eins liebt bzw. mag.
Allerdings steckte mir Clementinas Bericht über die Rattenbande noch in den Knochen, merkte ich bei einem kurzen Frühstück. Entsetzlich – und so traurig, dass diese Ereignisse die einst so glücklich wirkende Schneehasenfamilie so sehr zerstört hatten.
„Wir sollten los“, sagte Clementina, während Spring noch eilig eine zweite frisch gefangene Maus verschlang. „Debby hält seit gestern Wache. Ich möchte sie jetzt nicht mehr allzu lange allein lassen. Sie ist zwar schon fast erwachsen, aber trotzdem möchte ich ihr nicht zu viel zumuten.“
Wache?
Bevor ich fragen konnte, fuhr Clementina fort, wenn auch immer noch sehr kryptisch:
„Daisy, die mittlere, hat vor ein paar Tagen ihre Ankunft im Schneeland beobachtet und gesehen, wie sie sich ein Versteck gesucht haben. Sie hatte sich mit Dilia gezofft und war für ein paar Stunden abgehauen.“
Sie warf mir einen kurzen Blick zu und der Ansatz eines Lächelns erschien auf ihrem Gesicht: „Kennen wir ja beide. – Jedenfalls berichtete sie davon, als sie zurück war. Und Dilia und ich wurden beide hellhörig. Daisy hat mir gezeigt, wo sie sie gesehen hatte – und ich habe abwechselnd mit Debby dort Position bezogen und sie ausspioniert. Bis wir uns sicher waren. Jedenfalls Dilia. Ich … hab Angst, dass wir uns täuschen. Es wäre einfach ein sehr unwahrscheinlicher Zufall.“
Wer zur Großen Katze im Himmel waren SIE?
Meine Neugier stieg langsam ins Unermessliche, also fragte ich laut.
Clementina schüttelte den Kopf: „Macht euch selbst ein Bild. Ich will euch nicht beeinflussen oder zu große Hoffnung machen. Wie gesagt, vielleicht liegen Dilia und ich ja falsch.“
Sie klang unsicher. Ich kannte den Tonfall von Anna:
Dieses Zweifeln an der eigenen Wahrnehmung. Sich selbst nicht zu trauen. Nicht den eigenen Gefühlen, Gedanken, Beobachtungen, Einschätzungen. Immer wieder zweifeln an allem. Ist eine Folge davon, wenn eins ständig die eigene Wahrheit abgesprochen bekommen hat, wie es standardmäßig geschieht, wenn eins traumatische Erfahrungen macht, miau. Von den Täter*innen, dem nahen Umfeld, der Gesellschaft.
Clementina und ihrer Familie war im Zauberwald von keinem Tier geglaubt worden, dass Konrad unter Umständen bei den Ereignissen, die zur Ermordung von Clementinas Mutter führten, seine Pfoten im Spiel gehabt hatte. Ihre Hinweise waren abgeschmettert, der Fall nie untersucht worden. Zusammen mit dem schrecklichen Verlust der Mutter, dem Zerfall der Familie kann das reichen, um unter Traumafolgen zu leiden.
Ich gab Spring mit einem Blick zu verstehen, dass sie nicht nachhaken sollte, und sagte betont munter: „Na, dann mal los.“
Und so brachen wir auf. Clementina legte hoppelnderweise ein flottes Tempo an den Tag, sodass ich Mühe hatte, den Anschluss nicht zu verlieren. Seit fast einem Jahr machte ich jetzt Konditionstraining und ich war wirklich schneller und ausdauernder geworden, aber es reichte eindeutig nicht für flinke Schneehasis.
Nur einmal blieb Clementina kurz stehen, sah nach links in die Dunkelheit und murmelte: „Schon wieder …“
Ich folgte ihrem Blick und sah lediglich zwei dunkelgraue, große Schatten im Nichts verschwinden. Es war verflixt dunkel und trotz hervorragender Katzenaugen hatte ich keine Ahnung, was Clementina gemeint haben könnte. Spring hatte mir erzählt, dass der Sternenhimmel über dem Schneeland noch grandioser sei als auf der restlichen Magischen Welt. Leider verhinderte in dieser Nacht eine tiefhängende Wolkendecke den Blick darauf.
Da Clementina sich bereits wieder in Bewegung gesetzt hatte, verkniff ich mir die Frage danach, was sie gesehen hatte.
Wir flitzten weiter, allmählich wurde die Landschaft hügeliger und schließlich erreichten wir den Fuß des großen Gebirges, das wir bei unserer Ankunft bereits in der Ferne erblickt hatten. Inmitten einer Gruppe dicht stehender Tannen hielt Clementina endlich an. Wir waren bestimmt zwei Stunden unterwegs gewesen, langsam begann es zu dämmern. Einen farbenfrohen Sonnenaufgang würden wir wohl aufgrund der Wolken nicht zu Gesicht bekommen. Schade. Sehr schade. Ich liebe Sonnenaufgänge.
„Debby?“, Clementina flüsterte.
„Bin hier“, eine jugendliche Stimme flüsterte zurück.
Wir zwängten uns durch das Unterholz. Mittendrin saß Debby, gut versteckt im Gestrüpp, in einer tiefen Mulde im Boden. Dafür dass sie fast erwachsen war, wirkte sie recht klein. Und sie war genauso niedlich, wie es Clementina damals auch gewesen war. Schneehasenkinder und -jugendliche sind einfach entzückend.
„Nichts Auffälliges seit gestern Nachmittag“, wandte sich der kleine Flauschball an Clementina. „Die sind wie immer früh reingegangen.“
Clementina nickte zufrieden und wandte sich an Spring und mich:
„Seht ihr diese fünf Tannen dort?“
Sie deutete auf eine der Baumgruppen, die hier überall standen, vielleicht 15 bis 20 Meter von uns entfernt.
„Dort in der Mitte liegt der Eingang zu einem alten Hasenbau. In dem haben sie Unterschlupf gefunden. Meist kommen sie nur am Morgen und am Nachmittag heraus, um ein paar Mäuse zu fangen. Jedenfalls die, die dazu noch in der Lage sind. Müsste bald so weit sein.“
Zwischen unserem Versteck und der Gruppe Tannen, auf die Clementina gezeigt hatte, standen Weidenbüsche, Felsen und vereinzelte, kleinere Nadelbäume. Wir waren einigermaßen gut versteckt und hatten doch eine ausgezeichnete Sicht auf unser Beobachtungsobjekt. Hervorragende Bedingungen, laut Handbuch für die Ausbildung von Spionagetieren.
Wir quetschten uns zu Debby in die Mulde und dann hieß es wieder einmal warten. So dicht aneinander gedrängt war es schön muckelig warm – und nach einer Weile merkte ich, wie meine Augenlider immer schwerer wurden. Fast wäre ich eingeschlafen – auf Beobachtungsposten, Große Katze im Himmel, wie peinlich.
Doch Debbys helles Stimmchen sorgte dafür, dass ich zu mir kam: „Achtung! Da kommen die ersten.“
Mittlerweile war es tatsächlich hell geworden, stellte ich überrascht fest. War ich doch richtig eingeschlafen? Ich richtete meinen Blick auf die Gruppe der Tannen. In der Tat. Da gab es Bewegung. Zunächst waren drei Katzen zu sehen, die – sich vorsichtig umschauend – aus dem Schutz der Bäume heraustraten. Die erste, schwarz-weiß, sah völlig zerrupft aus. Das Fell wirkte ausgedünnt und stand in alle Richtungen ab. Manche Stellen am Körper waren kahl. Sie humpelte stark. Die beiden getigerten Kater, die ihr folgten, sahen äußerlich unbeschadet aus. Doch der eine murmelte unablässig vor sich hin und drehte den Kopf beim Laufen permanent und panisch wirkend in alle Richtungen. Hin und wieder stieß er einen Schrei aus. Der andere, ebenfalls ein Kater, hielt sich dicht an seiner Seite und schien ihn, relativ erfolglos, beruhigen zu wollen.
Wer zur Großen Katze im Himmel waren die drei? Und warum waren zwei von ihnen in einem so fürchterlichen Zustand?
Erneut gab es Bewegung in den Tannen und eine junge rotgetigerte Katze gesellte sich zu den anderen, die sich neben einem großen Felsen niedergelassen hatten. Dann folgten zwei weitere: Eine stämmige schwarze Katze mit weißem Latz, an sie gelehnt ein uralter, rotgetigerter Kater, der sich kaum auf den eigenen Beinen halten konnte und von der schwarzen Katze gestützt wurde.
Mir klappte die Kinnlade herunter. Ungläubig starrte ich den Kater an. Das konnte doch nicht sein! Oder doch? Ich konnte kaum atmen.
„Nero. Das ist Nero!“, Spring sprach flüsternd aus, was ich dachte. Ihre Stimme klang heiser. „Eindeutig. Das ist eindeutig Nero“, wiederholte sie fassungslos.
Nero, der Lebensgefährte meiner Mutter. Kopf der Unheilvollen, bis er von Minna gestürzt worden war. Der mit seiner Bande nicht nur Minnas Bande angegriffen, sondern um ein Haar Snowflake getötet hatte. Der zusammen mit seinen verbliebenen Gefährt*innen von JP durch die Dimensionen gebrüllt worden war (=> Familiengeheimnisse, => Snowflake in Not).
Der wie die fünf anderen überlebt hatte.
Welch hammermäßige Entdeckung!
Allerdings war er mindestens um 300 Jahre gealtert. Nero war körperlich ein Greis, nachdem ihn JP durch die Universen gebrüllt hatte. Ansonsten war er in Ordnung, denn er fing an, Befehle zu brüllen, und die drei Katzen, die unverletzt wirkten, begannen zwischen den Felsen am Fuß des Gebirges zu jagen.
Nero.
Wir hatten ihn gefunden. Besser gesagt, Clementinas Stieftochter. Im Nachhinein frage ich mich schon, warum weder Spring noch ich bei Clementinas Andeutungen darauf gekommen sind, dass SIE eine der beiden Splittergruppen der Unheilvollen waren. Miau.
Jedenfalls ratterte mein Kopf. Sie waren nur zu sechst. Davon waren drei in einem Zustand, in dem sie vermutlich nicht kämpfen konnten. Wäre es möglich, sie hier und jetzt zu dritt zu überwältigen und festzunehmen? Doch wo war der Rest seiner Bande? Snowflake und JP hatten von 15 bis 20 Katzen gesprochen, die meinen besten Freund damals im Bergland angegriffen hatten.
„Worüber du auch immer gerade nachdenkst, Merlin, die Antwort lautet ‚nein‘“, Spring schaute mich ernst an. „Wir werden nicht riskieren, nur zu dritt diesen Haufen da anzugreifen.“
„Zu viert“, meldete sich Debby empört zu Wort. „Und Mami ist hervorragend im Nahkampf. Da bleibt euch die Spucke weg, sag ich euch.“
„Nein“, wiederholte Spring. „Das werden wir nicht tun. Ihr körperlicher und mentaler Zustand sagt nichts über ihre magischen Kräfte aus. Wenn sie immer noch in der Lage sind, Miese Magische Energie einzusetzen, sind wir verloren. Sie sind nur zu sechst?“
Die Frage richtete sich an Clementina, die bestätigend nickte.
„Das heißt, den Rest der Bande hat JP woanders hin gebrüllt – oder sie haben es nicht überlebt. Sobald sie mit Jagen und Essen fertig und wieder in ihrem Versteck sind, werde ich Maxi über Funk informieren. – Keine Widerrede“, erneut sah sie mich streng an.
Okay, okay. Sie hatte ja recht. Ich durfte schon wegen Anna & Co nicht riskieren, verletzt oder gar getötet zu werden, auch wenn es mir in den Pfoten juckte, Nero selbst gefangen zu nehmen.
So beobachteten wir die Bande noch eine gute Stunde lang, bis sie sich wieder in den Schutz der Tannen begaben.
„Dort bleiben sie jetzt wenigstens sechs bis sieben Stunden“, erklärte Clementina, dann sah sie mich fragend an: „Also hatte ich wirklich recht?“
Ich bestätigte das nickend. Und wir hatten nicht nur Nero mit einem Teil seiner Bande entdeckt, sondern wir wussten jetzt sicher, dass es möglich war, JPs Brüllattacken zu überleben, wenn auch in sehr unterschiedlicher Verfassung.
Genau wie Clementina es vorhergesagt hatte, begaben sich Nero und seine Anhänger*innen nach einer guten Stunde wieder in ihr Versteck. Sie wäre wirklich eine gute Spionin geworden. Im Laufe des gestrigen Abends hatte sie uns erzählt, dass sie als Kind davon geträumt hatte, in die Pfotenstapfen ihrer Mutter zu treten.
Sobald klar war, dass sich in dem Grüppchen von Tannen nichts mehr rührte, flitzte Spring zu einer anderen Baumgruppe, um ungestört mit Maxi sprechen zu können. Debby fielen derweil die Augen zu und mein Magen knurrte. Doch Jagen und Essen würden warten müssen. Wir waren zu dicht an Neros Versteck und mussten uns so leise wie möglich verhalten.
Schließlich kehrte Spring zurück, warf einen gerührten Blick auf Dilias schlafende Stieftochter und informierte uns über das, was sie mit Maxi besprochen hatte.
„Sobald sie wieder rauskommen, gebe ich Maxi per Funk ein Zeichen. Sie springt zusammen mit ihren drei Brüdern und dem Rest des Sondereinsatzkommandos in eine andere Dimension und von dort aus hierher. Ich habe ihr die Koordinaten durchgegeben. Sie werden also innerhalb von ein paar Sekunden nach meinem Funkspruch hier aufschlagen und Nero und seine Leute sofort festnehmen. Dadurch dass sie wie aus dem Nichts auftauchen, sollten wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite haben und einen Kampf vermeiden können. Zumindest ist das der Plan.“
Dann sah sie mich an: „Wir haben strikte Anweisung, uns herauszuhalten. Soll ich dir ausrichten.“
Ah, ja. Mal wieder eine Spezialanweisung von Maxi an mich. Nun gut, ich hatte sowieso beschlossen, in diesem Fall keine eigenmächtigen Aktionen zu starten.
Die Stunden in der Mulde zogen sich wie Kaugummi. In den letzten Wochen hatte ich wirklich viel Zeit mit Warten verbracht. Eine Stunde, bevor es anfangen würde zu dämmern, war es so weit: Es war erneut Bewegung zwischen den Tannen zu sehen.
Und dann ging alles ganz schnell. Spring zischte „Trockenfutter“ (merkwürdiges Codewort, fand ich) in das Funkgerät und in dem Moment, als Nero – wieder gestützt von der schwarzen Katze – ins Freie trat, landete zeitgleich unser Sondereinsatzkommando. Noch bevor Nero und seine Anhänger*innen begriffen, was passierte, hatten Maxis Brüder sowie eine Gruppe aus drei großen Hunden und einigen Katzen sie umstellt und feuerten knallgelbe Magiestrahlen auf jedes einzelne Mittier ab.
Hui. Der Zauber, der die Magie des Gegenübers für eine gewisse Zeit vollständig blockt. Je nachdem, wie stark er dosiert worden ist. Schwierig zu auszuführen und noch schwieriger zu lernen. Und an der Grenze zu Mieser Magischer Magie. Daher darf er nur von dazu autorisierten magischen Tieren eingesetzt werden. Es braucht dafür eine extra Prüfung, die ich mir nie angetan hatte.
Als Nero (viel zu spät) reagierte und „Kämpft“ brüllte, hatten ihn schon zwei der Gorillas gepackt und hielten ihn fest. Auch die anderen fünf Unheilvollen waren von jeweils zwei Mittieren des SEKs geschnappt worden.
Die ganze Aktion hatte nur Sekunden gedauert – und Nero und seine Bande waren verhaftet, ohne jedwede Gegenwehr. Beeindruckend.
Debby jedoch schien etwas enttäuscht: „Das war’s schon? Darauf haben wir Stunden gewartet?“
Sie hatte offensichtlich mehr Spektakel erwartet.
Maxi war etwas abseits gelandet, zusammen mit einem stattlichen Kater, ein Teils des Kopfes, Rücken und Schwanz getigert, der Rest inklusive Gesicht schmutzig-weiß. Ich kannte ihn nicht – und hatte auch keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, denn nun trat Maxi vor Nero. Es hielt weder mich noch meine Begleiterinnen mehr in unserem Versteck. Die Verhaftung wollten wir aus nächster Nähe sehen. Maxi klärte Nero über seine Rechte auf, ja, das machen wir genauso wie eure Polizei, und begann dann die Gründe aufzuzählen, warum er verhaftet wurde. Die Liste seiner Verbrechen war elend lang.
„Bringt sie in den Zauberwald“, wies sie anschließend das Sondereinsatzkommando an. „Auf dem Landweg.“
Ich fand den letzten Zusatz überflüssig, Dimensionenspringen schied schließlich aus, da das SEK die Magie von Nero und seinen Gangmittieren blockiert hatte. Keine Magie, kein Dimensionenspringen, wie ihr wisst.
Die beiden Gorillas, die Nero mit festem Griff zwischen sich festhielten, setzten sich zuerst in Bewegung. Als sie an uns vorbeigingen, wandte Nero den Kopf in meine Richtung und suchte meinen Blick:
„Was bist du doch für ein Versager. Ein Versager und ein Verräter. Deine Mutter wäre abgrundtief enttäuscht von dir und würde sich in Grund und Boden schämen. Ein erbärmlicher Feigling wie dein Vater. Ein elendiger Schwächling.“
Jedes einzelne Wort triefte vor Hass.
Spring fauchte und schien auf Nero losgehen zu wollen. Doch ich hielt sie zurück und sah Nero fest an, ohne etwas zu erwidern. Starrte ihn nur ungerührt an, bis Maxis Brüder mit ihm an mir vorbeigegangen waren. Für einen Moment war ich selbst verwirrt. Wartete auf den Stich in meinem Herzen. Doch seine Worte taten nicht weh. Noch vor einem Jahr wäre das wahrscheinlich der Fall gewesen. Vielleicht fing diese Wunde endlich an zu heilen.
Nach einigen Metern dreht er sich noch einmal zu mir um: „Nicht mal Skrupel, die eigene Halbschwester verhaften zu lassen.“
Er machte eine Kopfbewegung in Richtung der jüngeren rotgetigerten Katze, die von zwei kräftigen braunen Hunden festgehalten wurde und zeterte, was das Zeug hielt, und als einzige versuchte, sich zu wehren.
Zack.
Jetzt durchfuhr es mich doch und gegen meinen Willen wandte ich ruckartig den Kopf zu dieser Katze und schluckte. Halbschwester? Meine Mutter hatte mit Nero noch einmal ein Kind bekommen? Und ich hatte gedacht, ich wüsste endlich alles über meine Familie. Für einen Moment verschwamm alles um mich herum. Wie durch Nebel hörte ich Neros höhnisches Lachen, sah aus dem Augenwinkel einen grauen Schatten fliegen. Dann ging das Lachen in einen Schmerzensschrei über. So laut, dass sich der Nebel wieder lichtete.
Spring.
Sie war dabei, Nero doch das Gesicht zu zerkratzen, und wurde eiligst von Maxi von ihm weggezerrt. Mit einer unwirschen, flinken Drehung befreite sie sich aus Maxis Griff und kam zu mir herüber. Das Fell stand ihr noch immer zu Berge und sie fluchte und schimpfte vor sich hin. Die beiden Gorillas mit Nero in der Mitte beeilten sich, von uns wegzukommen.
„Lohnt sich nicht, sich über den Kerl aufzuregen“, versuchte ich Spring zu beruhigen. Bevor sie antworten konnte, trat Maxi zu uns. Sie sah Spring streng an:
„Du weißt genau, dass wir keine Gefangenen angreifen!“
„Aber …“, Spring schien Widerworte geben zu wollen, besann sich jedoch. „Hast ja Recht.“
„Verdient hat er es allerdings“, fügte Maxi zu meiner Überraschung hinzu und fuhr dann ernst fort: „Wir müssen dringend über diesen ganzen Ausflug zu der angeblichen Freundin in Not reden, meine Liebe. Was war das bitte für eine Nummer? Ihr habt doch gewusst, dass …“
Clementina schaltete sich ein: „Ich habe Merlin um Hilfe gebeten, weil es mir nicht gut ging. Und als ich ihm und Spring die Gegend zeigte, haben wir Nero und seine Bande per Zufall entdeckt. Ich wollte nicht, dass wer anders von meinen Beziehungsproblemen erfährt. Daher habe ich den Brief so umständlich verschlüsselt. Ich weiß, das war ein wenig drüber.“
Holla, die Waldfee, also ich hätte Clementina geglaubt, so unschuldig, wie sie Maxi anschaute. Sie wusste, welche Ausrede Spring Maxi aufgetischt hatte, um den merkwürdigen Brief von ihr zu erklären.
Maxi ging nicht darauf ein, sondern wandte sich an Spring: „Wir reden da noch drüber, wenn wir alle wieder im Zauberwald sind.“
Okay, so ganz geschluckt hatte sie die Lüge leider nicht, auch wenn sie schlagartig weniger wütend wirkte.
„Aber ihr bleibt noch eine Nacht, oder? Ich hab euch doch noch gar nicht richtig kennengelernt.“ Debby meldete sich zu Wort und sah abwechselnd von Spring zu mir. „Das dürfen sie doch, oder?“, die Frage ging an Maxi.
„Ihre Entscheidung. Sind ja schließlich erwachsen. Auch wenn sie sich oft nicht so benehmen“, antwortete diese, weiterhin die strenge Vorsitzende. Doch ich kannte sie mittlerweile zu gut. Schneehasen-Charme ließ sie garantiert auch nicht kalt.
„Wir bleiben gern noch eine Nacht“, wandte ich mich an Debby, die mich anstrahlte, als sei ich irgendein:e Superheld*in und nicht ein ungeschickter, nicht sonderlich begabter magischer Kater, der versehentlich immer mal wieder in irgendwelche Abenteuer gerät.
Und so machten wir uns alle auf den Weg – Maxi folgte dem Sonderkommando in den Zauberwald und wir kehrten zu Clementinas Bau zurück. Auf dem Weg erklärte mir Spring, wer der getigert-weiße Kater war, der Maxi begleitet hatte: Anton, so sein Name, war Anwärter auf den Posten des Stellvertreters von Konrad. Seine Ernennung zum Vize-Chefspion stand kurz bevor. Der jetzige hatte genau wie seine fünf oder sechs Vorgänger:innen hingeworfen. Konrad als unmittelbarer Vorgesetzter war wohl alles andere als angenehm.
„Ich kenne ihn nur flüchtig, aber ich denke, ich werde versuchen, mich mit ihm anzufreunden und Infos über ihn zu bekommen“, teilte mir Spring ihre Gedanken mit. „Nach allem, was ich bisher über ihn weiß, vermute ich, dass er sich nicht so einfach die Butter vom Brot nehmen lassen wird wie seine diversen Vorgänger:innen. Es kann nicht schaden, einen Vertrauten in Konrads Nähe zu haben. Vielleicht finden wir ja doch was, was beweist, dass er nicht ganz sauber ist.“
Während ich abwechselnd über Springs Idee und Neros Behauptung, ich hätte eine Halbschwester, nachdachte, riss die Wolkendecke auf und der wirklich grandiose, bunte Sternenhimmel kam zum Vorschein. Im Schneeland wird es früh dunkel und spät hell. Meine Liebste hatte nicht zu viel versprochen, die Sterne leuchten hier um vieles schöner und klarer als auf der restlichen Magischen Welt.
Wir waren nur noch wenige hundert Meter von Clementinas Bau entfernt, als sie abrupt stehen blieb: „Da sind sie schon wieder!“
Ich folgte ihrem Blick und entdeckte etwa dreißig Meter rechts von uns zwei ausgewachsene Schneeleopard*innen, die aneinander gelehnt neben einem der Weidenbüsche mit dem Rücken zu uns saßen.
„Die tauchen hier alle paar Monate auf“, flüsterte Clementina uns zu. „Sehe sie immer mal wieder. Sind echt seltsam. Sobald sie ein anderes Tier erblicken, springen sie in eine andere Dimension. Zweimal an einem Tag habe ich sie noch nie bemerkt. Keins von den Tieren, die Dilia und ich hier kennen, weiß, wer sie sind.“
Ich spürte, wie mein ganzer Körper unter dem Fell zu kribbeln begann, wie so oft, wenn mich eine Ahnung beschlich. Zwei Schneeleopard*innen, die sich verhielten, als seien sie auf der Flucht? Das Kribbeln wurde stärker.
„Ich glaube, ich weiß, wer das ist“, sprach es und schlich auf leisen Pfoten langsam und vorsichtig in ihre Richtung. Springs geflüstertes „Merlin, nein!“ ignorierte ich.
Ich schaffte ungefähr die Hälfte der Strecke, bevor sie mich hörten und erst die Köpfe in einer panisch wirkenden Bewegung zu mir wandten und dann sofort die Position einnahmen, die für das Dimensionspringen nötig ist. Bevor sie erneut im Nichts verschwinden würden, rief ich:
„Wartet. Gaston? Coco? Seid ihr es? Ich bin Merlin. Ein Freund eures Sohnes Jean-Paul. Es geht ihm gut.“
Die beiden Schneeleoparden erstarrten, die Stille im Schneeland wurde geradezu ohrenbetäubend und ich hielt den Atem an. Sie hatten mich gehört. Wie in Zeitlupe drehten sie sich wieder in meine Richtung und für einen Moment sah es so aus, als beabsichtigten sie, zu mir zu laufen.
„Jean-Paul geht es gut. Aber er vermisst euch!“, setzte ich nach.
Und dann sprangen sie. In Nichts.
Dreimal verflixter Feenstaub. Ich starrte frustriert auf die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatten. Hatte ich Recht mit meiner Ahnung, meiner Eingebung, dass wir hier oben im Norden auf Jean-Pauls verschwundene Eltern getroffen waren? Natürlich konnte ich es nicht mit Bestimmtheit sagen und doch ... (=> 12. Jean-Pauls Geschichte)
Ich atmete tief durch und kehrte zu meinen drei Begleiterinnen zurück und schweigend setzten wir den Weg zu Clementinas Bau fort.
Spring und ich blieben tatsächlich noch drei Tage und nicht nur eine Nacht im Schneeland und lernten so auch den Rest ihrer Familie kennen. Dilia und ihre beiden jüngeren Töchter kehrten am Abend vor unserer Abreise zurück. Es freute mich ungemein, mitzuerleben, wie glücklich Clementina im Kreis ihrer Familie wirkte und wie liebevoll Dilia und sie miteinander umgingen. Es waren wirklich schöne Ferientage und den Gedanken an eine mögliche Halbschwester verbannte ich nach weit hinten in meinem Kopf. Ich wollte die Zeit genießen und verspürte tatsächlich an verschiedenen Punkten zum ersten Mal seit langer Zeit etwas Hoffnung:
Es war uns gelungen, Nero gefangen zu nehmen. Selbst wenn seine anderen Mittiere noch lebten, ohne ihren Anführer würden sie keine Gefahr mehr darstellen.
Nach diesen Ereignissen schien es mir nicht mehr unmöglich, auch Minna und ihre Verbündeten aufzuspüren, sei es mithilfe von Socke (=> Socke) oder durch Freund Zufall, bevor sie unsere und eure Welt ins Chaos stürzen können.
Und Hoffnung gibt es auch für Snowflakes Lebensgefährten JP. Spring und ich sind uns einig, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es seine Eltern gewesen sind, die wir im Schneeland gesehen haben, recht hoch ist.
Nachdem Spring zurück im Zauberwald war, sprach sie mit Pat darüber, der daraufhin sein sehr chaotisches Büro auf den Kopf gestellt hatte. Er meinte sich dunkel daran zu erinnern, dass es schon früher Hinweise darauf gegeben hatte, dass zwei sich seltsam verhaltende Schneeleopard*innen irgendwo gesichtet worden waren. Und tatsächlich wurde er fündig: In einer verstaubten Kiste, begraben unter dicken philosophischen Wälzern, lag ein Haufen Notizzettel, aus denen klar hervorging, dass nicht nur Clementina die beiden Schneeleos über die Jahrzehnte hin und wieder gesehen hatte.
Mir ist es ein Rätsel, warum diesen Hinweisen nicht nachgegangen worden war und keins die Verbindung zu Coco und Gaston gesehen hatte.
Ja, die Ereignisse auf dem Blauen Mond hatten sich damals nicht aufklären lassen, die Suche nach Jean-Paul und seinen Eltern war nach einigen Jahren eingestellt worden. Trotzdem. Es ließ mich doch etwas fassungslos zurück. Das Gute ist, dass diese gesammelten und nicht bearbeiteten Meldungen ein Muster erkennen lassen, wann die beiden wo auftauchen. Und damit besteht die Chance, sie doch aufspüren zu können.
Was immer mit ihnen geschehen war, warum auch immer sie ihrerseits ihren Sohn nicht gesucht hatten, JP hatte sie zumindest nicht getötet, wenn ich Recht behalten sollte.
Weniger befriedigend verliefen Springs Gespräche mit Maxi. Mit Clementinas Erlaubnis hatte Spring ihr von dem Verdacht gegenüber Konrad, mitschuldig am Tod von Clementinas Mutter zu sein, berichtet. Maxi versprach lediglich, dass sie Konrad im Auge behalten würde. Mau. Hoffen wir in dem Punkt also auf Anton und dass es Spring gelingt, ein Vertrauensverhältnis zu ihm aufzubauen.
Tja, meine zauberhaften Leser*innen, das war es im Großen und Ganzen für heute. Nur eins noch:
Auf dem Rückweg bestand Spring darauf, dass wir, bevor wir durch die Dimensionen zu Anna springen würden, über die Glitzerbrücke laufen. Große Katze im Himmel, war mir schlecht, als ich von dem Felsstern aus Richtung Glitzer-Strom sprang. Aber – es war unfassbar – tatsächlich tauchte, kurz bevor ich dachte, ich würde in den reißenden Strom stürzen, ein Bogen aus Glitzer in allen Farben auf – und ich konnte sicher darüber laufen. Das Ding ist tatsächlich stabil, auch wenn es nicht so aussieht. Zur Freude der Kleinen hatte ich noch tagelang Glitzer im Fell. Ich bekam das nicht weggeputzt. Vielleicht wollte ich es auch gar nicht, miau. Denn ein bisschen Glitzer braucht es in dieser Zeit.
So, nun ist aber wirklich Schluss. Wenn euch die Geschichte gefallen hat, dürft ihr mir gern einen Kommentar hier auf dem Blog oder meinen Social Media Accounts hinterlassen oder das Kontaktformular nutzen.
Wir lesen uns. Bis bald.
Es grüßt euch herzlich euer Merlin.
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@energiepirat (Sonntag, 28 Juli 2024 14:40)
Lieber Merlin, ich bin berührt, entzücktn und begeistert. Wieder einmal triffst Du eine vertraute - wenn auch sicher nicht erwünschte - Erfahrung, die ich selbst mehrfach machen musste und mit der ich bis heute nicht fertig geworden bin - auf den Punkt: "Zweifeln an der eigenen Wahrnehmung. Sich selbst nicht zu trauen. Nicht den eigenen Gefühlen, Gedanken, Beobachtungen, Einschätzungen. Immer wieder zweifeln an allem. Ist eine Folge davon, wenn eins ständig die eigene Wahrheit abgesprochen bekommen hat, wie es standardmäßig geschieht, wenn eins traumatische Erfahrungen macht, miau. Von den Täter*innen, dem nahen Umfeld, der Gesellschaft!"
Verpackt in einer spannenden und im eigentlichen Sinne des Wortes zauberhaften Geschichte. Danke.
Diese frühkindliche Prägung hält mich stellenweise noch immer gefangen, Das kan ich aber mittlerweile zumindest spüren und einordnen.
Gut dass ich Dich getroffen habe.
firefly (Sonntag, 28 Juli 2024 19:05)
Was für eine tolle geschichte! Ein echtes glitzer-highlight, warm, spannend und mit vielen zusammen laufenden fäden. und mit sehr neugierig machenden aussichten. bin sehr gespannt, wie es weitergeht�
Hartmut (Montag, 02 September 2024 18:01)
Hallo Merlin, du lässt den Leser ja nicht zur Ruhe kommen, und schon wieder gibt es eine ganze Menge an neuen Informationen, Tieren, Lügen, Blitzaktionen, wunderschönen Kopfbildern und einer erfolgreichen Festnahme. Wobei ich sagen muss, dass ich mir hier noch nicht ganz im Klaren bin. Solange sie nicht verurteilt und in die Verbannung geschickt worden sind, zweifle ich noch immer daran, ob sie nicht irgendwie verschwinden könnten. Aber erst mal muss ich euch zur Gefangennahme gratulieren. Das war ja gar nicht so einfach. Es war sehr mutig von dir, ihn nur mit einem starren Blick anzuschauen. Das hat ihn schon deutlich gewurmt, und kaum freut man sich darüber, da kommt eine neue Person ins Spiel.
Das wird gar nicht so einfach werden für dich, Merlin.
Kaum hat man diese Überraschung ansatzweise verdaut und glaubt, es wird jetzt etwas ruhiger, kommt eine neue Geschichte auf einmal hervor, die man so nie hätte glauben können. Ich bin gespannt, wie ihr das JP erklären wollt. Und ja, schon wieder ist das Killerkaninchen in die ganze Sache involviert. Es ist ja gut, seine Feinde im Auge zu behalten, aber bei dem sollte man sehr, sehr vorsichtig sein.
Und über all dem strahlt die Hoffnung, ja, hier wie im Zauberwald. Wie sagt das Sprichwort: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Dann will ich mal sehen, was noch alles so passiert. Gruß an Anna und Co. und natürlich auch an Spring.�