Ein fast perfekter Sommertag

KI Bild. Eine schwarze Katze mit gelben Augen sitzt auf einer grauen Couch. Vor sich einen Laptop. Links im Bild steht eine Tasse mit Kaffee auf einem Buch.

CN Täter*innensätze

CN Programmierung

 

 

Miau und hallo, meine zauberhaften Leser*innen,

es gibt in diesem Text zu den beiden o.g. CN eine längere Passage, die Betroffene u.U. triggern kann, daher werde ich diesen Teil in kursiv setzen, damit ihr gewarnt seid.

 

Also, ich nehme an, jene, die mir auf einem meiner Social Media Accounts folgen, erinnern sich? Ich hatte im März 2023 auf Twitter eine Umfrage gestartet, wozu ihr gern etwas lesen würdet. Nun, da wurde u.a. der Wunsch nach einer Geschichte geäußert, in der es allen gut geht. Darüber habe ich lange nachgedacht, denn so einfach ist das hier bei Anna & Co nicht, das mit dem Gut-Gehen(-Lassen). So paradox das klingt, für Anna und die anderen, aber auch für viele andere Menschen mit DIS/pDIS bzw. komplexen Traumafolgestörungen, die ich im Laufe meines Lebens kennengelernt habe, ist es harte Arbeit, einen guten Tag, eine gute Zeit zu haben. Früher kam es hier am Ende eines wirklich schönen Tages regelmäßig zu heftigen Zusammenbrüchen. Manchmal auch heute noch. Warum, fragt ihr?

 

 

Foto. Der große Kopf eines schwarzen Katers mit gelben Augen. Schaut ernst in die Kamera.
Erklärkater. Freies Foto von Pixabay.

Nun, das hat mehrere Gründe: Zum einen kann Schönes, Tolles – oder wie Annas Kinderanteile sagen, Himmelblaues – echt überfordern. Die Reize und Eindrücke müssen verarbeitet werden. Allein das kann schon zu viel sein, für ein Nervensystem, das chronisch überreizt ist. Zum anderen ist Negatives, permanenter Stress, Sorgen, Ängste, das Managen von Krisen etc. für viele Anteile viel einfacher auszuhalten, denn es ist vertraut. Von Anfang an. Und dadurch so viel sicherer. Allein dadurch kann es dazu kommen, dass etwas Himmelblaues von innen boykottiert wird. Ein Punkt, der vermutlich schwer zu verstehen ist.

 

Zum dritten – und das ist der schwerwiegendste Grund – wirken die alten Verbote noch, sitzen bei vielen Anteilen tief. Ja, bei Menschen mit schwer(st)en Traumatisierungen gibt es in aller Regel ein Verbot, dass es der Person gutgehen darf. Etliche von Annas Anteilen haben die Sätze, Gesten, Handlungen der Täter*innen verinnerlicht, deren Kernaussage, ob bewusst oder unbewusst vermittelt, immer dieselbe ist: „Du bist nichts wert und hast daher kein gutes Leben verdient.“

 

Ein Kind, dessen Bedürfnisse permanent ignoriert oder verhöhnt werden, das vernachlässigt wird, Verachtung und/oder Herabsetzung erfährt, geschlagen und/oder sexuell ausgebeutet wird, wird zwangsläufig davon überzeugt sein, nichts wert zu sein und somit auch kein gutes Leben zu verdienen – denn es wird so behandelt, als sei es nichts wert.

 

Manche Täter*nnen wenden Gewalt aber tatsächlich auch strategisch an, damit die Kinder/Anteile diesen Satz nicht nur für wahr halten, sondern auch dafür sorgen, dass Himmelblaues nicht stattfindet, boykottiert wird. Je nach Anteil können der Boykott und die Reaktion nach etwas Himmelblauem unterschiedlich aussehen (von SVV danach, über massive Beschimpfungen Anna gegenüber von innen vorher, währenddessen und hinterher, Panikattacken, Selbsthass nach himmelblauen Erlebnissen, Fluten mit Gefühlen und/oder Erinnerungen von früher, körperliche Symptome, Suizidgedanken u.v.m.), je nachdem wie der Anteil programmiert worden ist.

 

So wird es genannt, wenn Täter*nnen bewusst Gewalt anwenden, um Anteile auch später im Leben, selbst wenn kein Kontakt mehr zu ebendiesen besteht, zu bestimmten Handlungen zu zwingen. Wie Täter*innen eine solche Programmierung vornehmen, erspare ich euch mal. Letztlich dient dieses Vorgehen einzig und allein dem Schutz der Täter*innen(-gruppe). Ein Mensch, dem es nie wirklich gut geht/gut gehen darf, wird nie die Kraft haben, Taten aufzudecken oder gar versuchen, Täter*innen zur Rechenschaft ziehen zu lassen. Trotzdem himmelblaue Stunden oder Tage zu erleben erfordert viel Arbeit mit Anteilen, die mit aller Macht versuchen, genau das zu verhindern, und zwar in sehr kleinen Schritten.

 

 

Eine gezeichnete blau-schwarze Katze mit großen gelben Augen schaut neugierig hinter einer Art Vorhang in türkis, himmelblau, hellblau hervor.
Freies Foto von Pixabay. Von privat bearbeitet.

So, Stimmung am Boden? Dann kommen wir zur eigentlichen kleinen Geschichte. Denn natürlich gibt es hier auch Himmelblaues.

 

2022 hatte Anna sich im Frühsommer endlich dazu durchgerungen, einen Liegestuhl für den Balkon anzuschaffen, um draußen nicht mehr nur auf den Plastikstühlen sitzen zu müssen, was auf Dauer trotz Sitzkissen doch schnell ungemütlich wird. Sie hatte sich „nur“ zehn Jahre mit der Frage herumgeschlagen, ob das wirklich nötig sei, waren die alten Stühle doch noch in Ordnung. So war nicht nur ich, sondern auch die Kleinen begeistert von dieser längst überfälligen Entscheidung. Allein das zeigt noch mal, wie schwierig es sein kann, sich etwas zu gönnen, es sich wirklich gemütlich zu machen.

 

Ich probierte den Liegestuhl natürlich sofort aus, nachdem er an einem Samstagnachmittag angekommen war, noch im Zimmer, kaum dass ihn Anna probeweise aufgestellt hatte. Und befand ihn auf der Stelle für sehr bequem. Ausnahmsweise war der Inhalt des Pakets sogar für mich spannender als der Karton. Lustigerweise ist das Polster übrigens grau-weiß-blau gestreift. Himmelblau.

 

Nun, für den nächsten Tag waren angenehm-warme Temperaturen angesagt – und alle beschlossen gemeinsam, dann den Liegestuhl feierlich einzuweihen. Außer mir, ich verbrachte schon einen Teil der Nacht darauf, stand er doch noch ausgeklappt im Zimmer. Normalerweise schlafe ich nachts ja bei Anna & Co, zum Einschlafen auf dem Kopfkissen, später in Annas Kniekehlen oder zu ihren Füßen. Aber ich finde neue Möbel irgendwie spannend. 

 

Am nächsten Morgen wurde ich wie immer davon wach, dass Anna früh aufstand. Als ich schlaftrunken den Kopf hob, strich sie mir sanft über selbigen mit den Worten:

„Bleib liegen. Ich mache uns erst mal Kaffee.“

Sie weiß a) drum, dass ich kein Frühaufsteher bin und b) wie sehr ich Kaffee liebe. (Ja, magische Tiere dürfen Kaffee trinken, wenn sie denn wollen.) Und zu einem himmelblauen Faulenz-Balkon-Sonntag gehört natürlich besonders viel Kaffee. Also für mich. Und Schokolade zum Frühstück für alle, viel Ruhe und natürlich keine ToDo-Listen und auf gar keinen Fall Haushaltskram. Ein klein wenig Auszeit vom Alltag.

 

Als Anna endlich den Kaffee auf den Balkon trug, machte ich den Liegestuhl frei, denn der musste natürlich auch noch nach draußen. Dort beanspruchte Anna ihn für sich. Murr. Aber der Hinweis, sie habe ihn schließlich auch bezahlt, war deutlich, und ich fand auf die Schnelle kein Gegenargument. Ich setzte mich also einfach auf den Balkontisch, wie sonst auch. So kam ich sowieso besser an meinen Kaffee heran, pfff.

 

Erst mal nahmen wir uns ausgiebig Zeit für unser übliches Morgenritual: Anna schreibt Tagebuch, ich döse noch ein bisschen und schlabbere Kaffee – und dann bereiten wir gemeinsam mit allen relevanten Innenpersonen den Tag zusammen vor. Normalerweise liegt dabei der Schwerpunkt darauf, die ToDo-Liste usw. noch mal durchzugehen, damit alle wissen, was über den Tag ansteht. Heute ging es darum zu klären, wer was machen will, und jenen Innenpersonen, die nach wie vor Probleme mit Faulenzen haben, noch einmal zu erklären, dass das hier und heute erlaubt und ungefährlich ist, und festzulegen, wann wir uns um wichtige ToDo`s kümmern würden, um so Kämpfe untereinander und Meckereien während des Faulenzen zu vermeiden.

 

Die Wünsche für den Tag waren vielfältig, wie ihr euch denken könnt:

 

Hörbuch im Liegestuhl hören, Mittagsschlaf auf dem Balkon, ausgiebig Physioübungen machen. (Letzteres war natürlich Annas Wunsch und geht nur im Zimmer und stieß daher nicht auf große Begeisterung, wurde aber letztlich durchgewunken, als ich sagte, ich würde mitmachen. Ich hatte eh Lust auf eine Runde Katzen-Yoga.)

 

Draußen ein bisschen Lego bauen, kam als nächstes. (Das macht nicht nur den Kleinen und mir Spaß, sondern ist auch immer eine gute Gelegenheit innen ausführlich miteinander ins Gespräch zu kommen und mal zu checken, wie es einzelnen Anteilen so geht. Mit Lego, Puzzeln oder Spazierengehen klappt das so viel besser, als wenn Anna es am Küchentisch schriftlich versucht.)

 

Balkonblümchenpflege war ein weiterer Wunsch, miau. (Zwei der Kleinen lieben das, daher fällt es nicht unter ToDo’s, sondern unter Hobby.) und „Sonneeeeee“. Das kam von Janni, Annas Fünfjährigen innen, der leider nicht versteht oder einfach nicht wahrhaben will, dass nur im Zauberwald das Wetter verändert werden kann und nicht in eurer Welt.  Aber die Sonne schien netterweise ganz von sich aus. Die Einigung darüber, welches Hörbuch gehört werden sollte, ging überraschenderweise schnell:

 

Lizzy fand, es war mal wieder an der Zeit, die Känguru-Chroniken anzuhören. Und die lieben eigentlich alle innen, sodass es keinen Protest gab. Leider hören Anna & Co Hörbücher und Musik immer über Kopfhörer, sodass ich nicht mithören kann.

 

Aber kater hat ja auch so genug zu tun: Fellpflege, schlafen, futtern, Fellpflege, schlafen … und ich wollte Snowflake mal wieder einen Brief schreiben und Katzenyoga stand ja auch noch auf dem Programm. Das war mein Plan für den himmelblauen Sonntag; auf das Konditionstraining, das ich seit dem Erlebnis mit Joy (=> Ein chaotischer Sommertag), regelmäßig absolvierte, würde ich heute verzichten.

 

Tja, und genauso haben wir es dann gemacht. Es verbrachten alle (innen) zusammen den Sonntag ganz friedlich miteinander, größtenteils auf dem Balkon im Liegestuhl.

 

‚Wie? Das war es schon?‘, höre ich euch fragen. Ja. Tatsächlich. Das war es schon. Das ist die Geschichte. Um Anna & Co einen himmelblauen Tag zu bescheren, braucht es keine großen, aufregenden Erlebnisse/Ereignisse. Eher im Gegenteil, je friedlicher, je ruhiger, desto himmelblauer und erholsamer.

 

Und warum heißt dieser kleine Text dann nur: „Ein FAST perfekter Sommertag“?

Nun, ja, erstens ist hier immer irgendwas und was ist schon wirklich perfekt? Zweitens … ähm … gibt es in diesem Haushalt einen etwas tollpatschigen magischen Kater …

 

Ich bin abends noch mal auf den Balkon geschlichen, weil ich im Liegestuhl liegend die Vögel beobachten wollte. Anna hatte ihn aber schon zusammengeklappt. Da sie in dem Moment Zähneputzen war, habe ich versucht, ihn allein wieder aufzustellen. Ist mir auch gelungen, nur habe ich mir dabei (natürlich – *seufz) die linke Vorderpfote geklemmt. Verflixter Feenstaub, tat das weh. Zum Glück schaffte ich es gerade noch, den Schmerzensschrei zu unterdrücken, sodass Anna nichts von meiner Ungeschicklichkeit mitbekam. Dass ich die nächsten Tage ein wenig humpelte, erklärte ich ihr beiläufig mit Umknicken in der Küche nach einem missglückten Hüpfer. Erzählt ihr bloß nicht die Wahrheit, sonst verbietet sie mir, mir den Liegestuhl allein zu schnappen – und der ist wirklich sehr bequem.

 

Das war’s für heute, meine Zauberhaften. Ich hoffe, ihr hattet, trotz des schweren Themas, ein wenig Spaß an der Geschichte und könnt jetzt etwas besser verstehen, warum manches für Menschen mit Traumafolgestörungen so schwierig ist

 

Wie ihr wisst, freue ich mich sehr über Kommentare hier oder auf meinen Social Media Accounts. Wir lesen uns. Bis bald.

 

Es grüßt euch herzlich euer Merlin.

Kommentare: 4
  • #4

    Hartmut (Montag, 09 September 2024 11:57)

    Hallo Merlin,
    das war nun wirklich eine schöne, ruhige, manchmal auch zum Schmunzeln bringende Geschichte. Aber sie zeigte auch wieder einen kleinen Einblick: Was für andere leicht umsetzbar ist, ist bei bestimmten DIS-Systemen nicht so einfach umzusetzen. Und gerade du mit deinem Vater kannst dort auch gut mitreden. Allein über die Aussage: …du bist nichts wert.
    Aber zurück zu dieser schönen Geschichte. Interessant ist ja, dass magische Tiere nicht nur Kaffee trinken dürfen, sondern sich die Frage stellt: Was dürfen sie noch trinken? Vielleicht erfährt man das ja irgendwann mal als Nebensatz in einer anderen Geschichte.
    Ich hätte ja gedacht, dass du mehr auf den Karton abfahren würdest und später den Klappstuhl in Augenschein nehmen würdest. Ich kenne es von den beiden Katzen, die ich kenne, dass erst was der überprüft wird ist der Karton. Aber es scheint auch hier etwas anders bei einem magischen Kater zu sein. Den Platz im Klappstuhl zu genießen, ist dann wieder genau wie bei allen Katzen. Auf zum nächsten Kapitel!

    Viele Grüße an Anna und Co. und natürlich auch an Spring.�

  • #3

    Esther P. (Donnerstag, 21 September 2023 11:31)

    Danke, lieber Merlin, dass Du Anna & Co's + Dein Leben mit uns teilst. Das ist sehr lehrreich und trotzdem ganz wunderbar zu lesen!

  • #2

    firefly (Donnerstag, 14 September 2023 21:08)

    wie eine schulklasse - alle haben bedürfnisse, und der alltagsanteil muss jonglieren, um allen gerecht zu werden. allerdings 24/7. es steckt unglaublich viel arbeit und kraft dahinter, ein system so zu verstehen und kontakt zu haben, dass alltag überhaupt möglich ist. oder himmelblau. Und dann kommt der nächste trigger

  • #1

    @energiepirat (Dienstag, 29 August 2023 21:26)

    Ja, Himmelblau ist halt für manche zu einfach. Deswegen wird es nicht bemerkt und weggeschoben. Weil einfach kann ja jeder. Das ist der fatale Glaube, dass es nicht richtig sein kann, was man macht, wenn es nicht anstrengend, schmerzhaft. gefährlich oder letztlich umsonst ist was man tut. Ihr macht das alles richtig. Genau so. Lass Dir den Kaffee stets schmecken mein zauberhafter Merlin.