Miau und hallo, meine zauberhaften Leser*innen,
ich gebe ja zu, es war ein bisschen gemein, euch ausgerechnet, wenn es um das Thema Warten geht (=> 14. Verflixte Warterei), in eine Warteschleife zu schicken. Tschuldigung. Aber nun erzähle ich ja weiter, also seid mir bitte nicht gram:
Also, wo waren wir? Gemiau, ich wartete auf eine Reaktion von Spring auf meinen Brief. Tatsächlich war ich, nachdem ich ihn geschrieben hatte, zunächst etwas besser gelaunt und entspannter gewesen. Doch je länger es keine Rückmeldung von Spring gab, desto unruhiger wurde ich wieder. Ricky ebenso. Die Sorge, dass es zwischen mir und Spring aus sein könnte, beunruhigte sie, wie ich euch bereits erzählt hatte, stark. Die Angst vor Verlusten ist etwas, was sich bei Anna & Co durch fast alle Anteile und Altersstufen zieht.
Erst früh am nächsten Morgen, die Sonne war eben aufgegangen und Anna und ich saßen müde in der Küche vor unseren jeweiligen Kaffeetassen, hörte ich ein leises Geräusch auf dem Balkon.
Schnell flitzte ich ins Zimmer und schob mich durch die einen Spalt breit geöffnete Balkontür. Und richtig, da saß sie auf der Brüstung und sah mich an: Spring. Endlich.
Ihr Gesichtsausdruck war etwas unsicher, ihre Augen aber wie immer voller Wärme. Diese wunderschönen grünen Augen.
Ich kletterte auf den Tisch, ohne etwas zu sagen, befürchtete ich doch, meine Stimme könnte mir in diesem Moment versagen. Spring schwieg ebenfalls und sprang zu mir auf den Tisch. Dann drückte sie ihre Nase behutsam gegen meine. Ich hätte auf der Stelle losheulen können, riss mich aber zusammen und genoss es einfach. Wie sehr hatte ich sie vermisst.
Erst als ich eine Bewegung an der Balkontür wahrnahm, löste ich mich von Spring. Ricky war mir hinterhergeschlichen, linste durch den Spalt und lächelte zufrieden. Als sich unsere Blicke trafen, hob sie beide Daumen, grinste und ließ uns allein. Die Erleichterung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Nach all den Abschieden, Veränderungen, Verlusten im letzten Jahr hätten Anna & Co es nur sehr schwer verkraftet, hätten sie Spring nie wieder gesehen.
„Entschuldige, dass ich es nicht früher geschafft habe, hierher zu kommen“, begann Spring. „Aber ich musste erst noch was klären. Außerdem hatte die Schnecke Schwierigkeiten, mich zu finden, weil ich seit Sonntag bei Socke war.“ Sie brach ab, zögerte und fuhr fort: „Ich brauchte etwas Trost, nachdem du das Gespräch abgebrochen hattest.“
Socke, ein schwarzer Kater mit einer weißen Brust und weißen Pfoten, meine zauberhaften Leser*innen, ist Springs Cousin. Er ist ungefähr in Springs und meinem Alter und hat bis vor ein paar Jahren als Spion und zum Teil auch im Diplomatischen Dienst gearbeitet.
Spring und Socke sind seit Kindesbeinen eng miteinander verbunden, obwohl er einer der schrägsten Kater ist, die es im Zauberwald gibt. Ständig spielt er den Clown und es scheint immer so, als würde er nichts ernst nehmen. Laut Spring ist dem allerdings nicht so – und wann immer sie Kummer hat, wendet sie sich an ihn. Natürlich war sie am Sonntag zu ihm gegangen. Mau.
„Spring, es tut mir so unendlich leid, dass …“, ich wollte mich ein weiteres Mal ausführlich entschuldigen, doch Spring ließ mich nicht ausreden.
„Ich weiß. Mir auch“, sie sah mich fest an. „Und es hat mich arg mitgenommen, dass Maxi nicht zulassen wollte, dass wir Anna helfen. Ich war in einem solchen Rollenkonflikt, hin und her gerissen, zwischen meinen Aufgaben als Mittier im Vorstand und dir und Anna. Das hätte ich dir am Sonntag schon sagen sollen.“
Wieder lehnten wir uns für einen Moment aneinander, dies Mal Seite an Seite.
„Aber Socke“, schließlich begann sie zu strahlen und aufgeregt hin und her zu laufen, soweit das auf dem kleinen Balkontisch möglich ist, „hatte eine hervorragende Idee. Und noch besser: Maxi war im Endeffekt sogar einverstanden.“
Ich setzte mich kerzengerade auf und wartete neugierig darauf, dass Spring fortfuhr.
„Er hat angeboten, dass er den Job übernimmt, die Amtsleitung zu überwachen.“
„Socke? Aber ist der nicht irgendwie aus gesundheitlichen Gründen im Vorruhestand?“
„Das ist die offizielle Version, ja“, murmelte Spring.
„Das heißt, er ist gefeuert worden?“
Spring gab ein Geräusch von sich, was sich als „ja“ interpretieren ließ.
„Was zur Großen Katze im Himmel hat er angestellt?“, so leicht verlor bei uns im Zauberwald kein Tier seinen Job.
„Ich sag es mal so“, antwortete Spring, „er ist u.a. dafür verantwortlich, dass wir zu Deutschland seit ein paar Jahren keine diplomatischen Beziehungen mehr haben.“
„Hat er Merkel Kaffee über den Anzug gekippt, oder was?“ Eigentlich war das als Scherz gedacht gewesen, doch Spring warf mir einen eigentümlichen Blick zu:
„Unterliegt der Geheimhaltungsstufe 3. Tut mir leid.“
Hm.
„Konrad hat ihn damals rausgeworfen, zu der Zeit, als er vorübergehend nicht nur Chefspion war, sondern auch den Diplomatischen Dienst geleitet hat. Erinnerst du dich?“
Tat ich. Das musste um die Vorstandswahl 2017 herum gewesen sein. Der ehemalige Chefdiplomat, ein uralter, sehr sympathischer Golden Retriever, war verstorben und Snowflake, der die Nachfolge antreten sollte, hatte sich ein paar Wochen Bedenkzeit ausgebeten. So sprang Konrad ein, bis sich mein bester Freund sicher war, dass er sich der Verantwortung gewachsen fühlte.
„Jedenfalls hat Konrad damals Maxi, die ganz frisch im Amt war, überzeugt, Socke nie wieder eine verantwortungsvolle Aufgabe zu übertragen“, fuhr Spring fort. „Naja – und seitdem hat mein lieber Cousin Dauerferien und reist quer durch die Magische Welt, wie du weißt. Allerdings genießt er es nicht mehr so wie in den ersten Jahren. Ihm fehlt tatsächlich eine Aufgabe. Derzeit lebt er bei den Gnom*innen. Da hab ich ihn besucht, nach unserem Streit.“
Ja, gut, dann war es kein Wunder, dass die Schnecke etwas länger gebraucht hatte, Spring ausfindig zu machen. Das Gnom-Tal ist das reinste Labyrinth und schon so manch magisches Tier hatte Tage gebraucht, dort wieder herauszufinden. Die Gnom*innen sind in solchen Fällen nicht unbedingt eine Hilfe. Im Gegenteil. Sie haben mächtig Spaß daran, herumirrende Tiere bewusst in die falsche Richtung zu schicken. Socke mit seinem Hang zum Quatschmachen verstand sich mit ihnen garantiert ausgezeichnet. (Irgendwann erzähle ich euch mehr von den Gnom*innen, aber nicht heute.)
Um es ein wenig abzukürzen: Spring war von Sockes Angebot begeistert gewesen, die Amtsleitung nicht nur zu beobachten, sondern auch zu versuchen, sich mit ihr anzufreunden und sie perspektivisch auf unsere Seite zu ziehen. Nachdem sie mein Brief erreicht hatte, machte sie sich auf den Weg zu Maxi, um ihr noch in aller Frühe des nächsten Tages den Vorschlag zu unterbreiten. Da Socke ja offiziell nicht mehr im Dienst war, würde Maxi für den Job kein Tier von der Suche nach den Unheilvollen abziehen müssen. Und das war ja ihr Hauptargument gegen die Beobachtung der Amtsleitung gewesen. Die Vorstandsvorsitzende war nicht abgeneigt, zögerte aber, die Entscheidung zu treffen, ohne erneut Konrads Meinung zu hören. Der muss gelinde gesagt ziemlich ausgeflippt sein, so wie Spring es mir schilderte, und hatte dann einen Satz rausgehauen, der nicht nur Spring wütend machte, sondern auch Maxi explodieren ließ:
„Auf so eine be***** Idee, einen solch unfähigen De****, wieder mit einer Aufgabe zu betreuen, können auch nur weibliche Tiere kommen“, zitierte Spring Konrad wörtlich.
Auweia, miau. So unsicher wie Maxi auch sein mag, in ihrer Rolle als Vorstandsvorsitzende, eins hat sie, genau wie ihre Vorgänger*innen, von Anfang an nicht geduldet: Ableismus und Sexismus und sonstige Diskriminierungen und Beleidigungen von jedweden Lebewesen. Sie platzte und machte Konrad mit sehr deutlichen Worten klar, dass sie ihm solche Aussagen nicht durchgehen lassen würde – und wer hier die letzte Entscheidung traf: sie, die Vorsitzende. Muss eine beeindruckende Szene gewesen sein. Ihr dürft nicht vergessen, dass Maxi eine Gorilla-Dame ist und wenn Gorillas richtig wütend sind, ist das schon mehr als imposant, sag ich euch. Sie verpasste ihm eine offizielle Abmahnung. Das war schon die zweite innerhalb seiner Laufbahn. Bei der dritten wäre Konrad ohne Wenn und Aber seinen Job los. Während der noch damit beschäftigt war, nach Luft zu schnappen, wandte Maxi sich an Spring:
„Wir machen das genau so, wie du vorgeschlagen hast. Socke soll sich – und zwar ganz offiziell – um diese Amtsleitung kümmern.“
Dann war sie wohl von dannen gerauscht. Und auch Spring hatte das völlig verdatterte Killerkaninchen sitzen gelassen und war durch die Dimensionen direkt auf Annas Balkon gesprungen.
Spring hatte, mein Einverständnis vorausgesetzt, mit Socke verabredet, dass wir uns am späten Nachmittag mit ihm in dem kleinen Park hinter dem Amtsgebäude treffen würden, um die Einzelheiten des Auftrags zu besprechen.
Gut, so hatte ich noch Zeit, ein paar Dinge für Anna zu erledigen, die noch immer „Out of Order“ war, wie sie selbst solche Zustände, in denen vor Erschöpfung gar nichts mehr geht, nennt.
An dieser Stelle möchte ich das Thema Erschöpfung aus 13. Eine unheilvolle Entdeckung noch einmal aufgreifen. Das habe ich dort ja nur recht knapp behandelt.
Anna ist wie viele Menschen mit DIS/pDIS/kPTBS chronisch erschöpft. Diese Form der Erschöpfung, psychisch und physisch, ist nicht vergleichbar damit, was viele irgendwie kennen: einfach müde und zerschlagen nach einer harten Arbeitswoche zu sein oder einem anstrengenden Ereignis (Umzug oder ähnliches).
Anna kämpft mit dieser tiefgehenden Erschöpfung, seit sie Anfang 20 ist. Fast dreißig Jahre also mittlerweile. Und da reicht es nicht, sich mal ein Wochenende lang auszuschlafen oder Urlaub zu machen. (Zumal der Schlaf bei traumatisierten Menschen ja häufig nicht besonders erholsam ist.) Ein Wochenende zu faulenzen oder wie jetzt eine Woche ist wichtig, um die Spitzen zu kappen, ja. Aber die Grunderschöpfung bleibt. Wie ich euch durch die zitierte Löffeltheorie versucht habe zu erklären, ist es bei dieser Art der Erschöpfung nötig, das Leben daran wirklich anzupassen. Und das ist gar nicht so einfach.
Es kostet Kraft, tagtäglich in einer Welt voller Trigger zu leben. Es kostet Kraft, eine DIS zu managen, Therapie zu machen, mit Anteilen zu arbeiten usw. und quasi nebenbei die Anforderungen dieser Welt zu erfüllen.
Eine sehr tolle Frau aus Annas menschlichem Unterstützungsnetz hat es Anna gegenüber mal so formuliert: „Sie haben einen 24-Stunden-Job. Sieben Tage die Woche. 365 Tage im Jahr. Ohne Anspruch auf Urlaub.“
Jo, und selbst Pausen müssen innen hart verhandelt werden. Traumafolgestörungen, Schmerzen und ähnliches machen nicht einfach mal Wochenende oder Urlaub, nur weil Wochenende ist oder die betroffene Person Urlaub macht. Wie jede chronische Erkrankung, wie jede Behinderung sind sie immer da. Insofern sind solche Tipps wie „Mach einfach mehr Sport“ oder „Iss mehr Obst/Gemüse“ auch wenig hilfreich. Zu viel Sport kann eine solche Form von Erschöpfung verschlimmern, auch wenn Bewegung natürlich wichtig ist. Aber angepasst an den Zustand halt. Und natürlich macht es immer Sinn, sich einigermaßen gesund zu ernähren. Das ist aber kein Heilmittel für eine tiefgehende, jahrzehntelang bestehende Erschöpfung.
Anna war bisher ihrem Leben dreimal komplett zusammengebrochen, sodass es ohne Klinik nicht mehr ging, weil sie zu lange über ihre Grenzen und die des Systems gegangen war.
Und genau deswegen, damit das nicht noch einmal passiert, hatte ich ihr jetzt für eine Weile verboten, sich um Dinge im Außen zu kümmern, und sie gebeten, mir das zu überlassen. Fiel ihr schwer, doch da sie sich nach dem letzten Aufenthalt in einer Klinik geschworen hatte, nie wieder eine solche zu betreten, hielt sie sich dran.
Während ich also die Küche aufräumte und zwei Telefonate erledigte, jetzt wieder voll konzentriert, kuschelte sich Spring zu Anna ins Bett, die irgendeine Serie schaute, und schlief auf der Stelle ein. Die letzten Tage hatten sie offensichtlich sehr mitgenommen.
Ich ließ sie schlafen, bis wir zu dem Treffen mit Socke losmussten. Wir waren schon halb durch die Tür, als Spring noch einmal umkehrte, schnurstracks zum Vorratsschrank in der Küche marschierte und ein paar Pfoten voll Trockenfutter in ihren Lederbeutel stopfte. Das Zeug ist eigentlich nur für Notfälle, falls das Einkaufen aus irgendwelchen Gründen ausfallen muss, aber Spring liebt es und kann es den ganzen Tag futtern. Geschmackssache, miau.
Auf meinen verwunderten Blick hin erklärte sie: „Socke kommt grundsätzlich zu spät. Dann haben wir beim Warten wenigstens etwas zu knabbern dabei.“
Den Weg zum Amt, den ich erst am Sonntag mit Tasso und Joy zurückgelegt hatte, nutzten wir, um über Sockes bevorstehende Mission zu sprechen.
„Das wird dauern“, dachte Spring laut nach, „bis wir mehr über die Amtsleitung und ihre Verbindung zu Minnas Bande wissen. Zunächst muss Socke ihr Vertrauen gewinnen und sich mit ihr anfreunden.“
Ja, in der Tat, das würde ein langfristiges Projekt werden, das war mir klar.
„Er sollte auch versuchen, herauszubekommen, wann das Papier im Amt ankam. Und vor allem, wie und woher!“, Fragen, über die das Notizbuch keinen Aufschluss gegeben hatte und die mir noch im Kopf herumschwirrten.
„Den letzten Punkt finde ich am wichtigsten“, griff Spring den Faden auf. „Konrad hat mir erzählt, dass das Papier seit Jahren für interne Mitteilungen der Unheilvollen benutzt wird, da es absolut fälschungssicher ist und voll von MME (Miese Magischer Energie). Sie werden davon also Vorräte haben. Wie sie in das Amt gelangten, ist tatsächlich die große Frage. Das Wann, finde ich, lässt sich gut eingrenzen.“
Ich sah sie fragend an.
„Naja, letztlich bleibt da nur ein Zeitraum von wenigen Wochen. Zwischen der Flucht von Rosalie und den anderen Unheilvollen und dem Kampf mit Neros Bande. Seitdem sind Minna und ihre Mitstreiter*innen unauffindbar.“
Klingt logisch, dachte ich, während wir eine Straße überquerten.
„Socke macht das schon“, fuhr Spring zuversichtlich fort. „Seine Methoden sind ungewöhnlich, ja. Aber er ist gut und weiß, was er tut. Und er hat Charme. Die Amtsleitung hat er garantiert schnell um den Finger gewickelt.“
Ich war Springs Cousin nie begegnet und recht gespannt auf ihn, auch wenn mir notorisch Zuspätkommende per se nicht besonders sympathisch sind. Ich war da ganz bei Ricky, die das mal folgendermaßen formuliert hatte:
„Ja, diese Warterei triggert uns. Aber mal ganz ehrlich, es ist auch objektiv (das Wort hatte sie stark betont) echt unmöglich, so mit der Zeit anderer umzugehen.“
Gut auf den Punkt gebracht, finde ich.
Schließlich erreichten wir den winzigen Park hinter dem Amt, in dem wunderschöne, alte Kastanien stehen. Wenn die blühen, ist die ganze Anlage ein Traum aus rosa und weißen Blüten.
Und unter einer dieser Kastanien lungerte ein schwarzer Kater herum. Spring sah ihn im selben Augenblick wie ich.
„Oh, verflixte Maus. Ich habe es ihm noch gesagt“, sie sprintete los, bevor sie den Satz ganz ausgesprochen hatte und schimpfte noch immer mit Socke (ja, er war es, ausnahmsweise wohl mal überpünktlich), als ich die beiden erreichte:
„… nicht in der Menschenwelt. Ich hab es dir dreimal gesagt. Das ist viel zu auffällig. Meine Güte, wann lernst du es endlich.“
Was sie meinte? Nun, miau, ich habe meinen Augen zunächst auch nicht richtig getraut, aber Socke trug auf dem Kopf tatsächlich einen grünen Zylinder und um den Hals eine passende grüne Fliege. Es war eine Marotte von ihm, sich so auffällig auszustaffieren. Das hatte Spring mir schon berichtet. Seine Spionage-Aufträge absolvierte er gern in einer Art Super-Held*innen-Kostüm. Maske und Umhang. Dagegen waren Zylinder und Fliege ganz dezent, fand ich. Und er sah schick damit aus. Aber natürlich hatte Spring recht: Das verstieß gegen eine wichtige Regel: sich in der Welt der Menschen so unauffällig wie möglich zu bewegen.
„Okay, okay“, Socke machte eine beschwichtigende Kopfbewegung und stopfte Zylinder und Fliege in seinen Lederbeutel. (Die Dinger, die alle magischen Tiere bei sich tragen, sind eigentlich auch nicht wirklich unauffällig, wurde mir in jenem Moment zum ersten Mal klar. Aber die sind erlaubt. Nun ja.)
„Hi, du musst der berühmte Merlin sein“, Sockes Blick war zu mir gewandert. Seine Augen blitzten bei der Begrüßung fröhlich. „Bin erfreut, dich endlich kennenzulernen.“
„Gleichfalls“, murmelte ich. Manchmal schlägt sie noch durch, die alte Unsicherheit, wenn ich neuen Lebewesen begegne. Jetzt war so ein Moment. Socke ist ein wichtiger Teil von Springs Leben. Was, wenn er mich nicht mochte?
Socke musste es gespürt haben, denn er fuhr lax fort: „Mach dir keinen Kopf. Spring ist so begeistert von dir, ich mag dich jetzt schon.“
Da war er, dieser Tonfall, der mir immer so zu schaffen machte, wann immer ein Lebewesen ihn anschlug. Ich konnte Sockes Sätzen nicht entnehmen, ob er mich verspottete oder ob er es ernst meinte.
Spring war in dem Moment keine große Hilfe, denn sie kramte das Trockenfutter aus ihrem Lederbeutel hervor, mit der Bemerkung:
„Bevor wir deinen Auftrag genauer planen, brauche ich erst einmal eine Stärkung.“
„Planen? Was müssten wir denn da groß planen?“, Socke legte den Kopf schief, während er uns grinsend ansah. „Ich dachte, ich spring zurück in die Magische Welt und von da direkt auf den Schreibtisch der Amtsleitung und stelle mich einfach vor.“
Das war jetzt – hoffentlich – nicht ernst gemeint, miau. Spring, mit dem Trockenfutter beschäftigt, verdrehte nur die Augen und murmelte undeutlich was von „Scherzkeks“.
„Okay, ich seh‘ schon, ihr seid nicht zu Späßen aufgelegt. Also wo ist das Büro dieser Dame – und wie heißt sie eigentlich?“
Ich nannte ihm den Namen, für die Geschichte nennen wir sie einfach Brigitta, denke ich, und deutete dann mit dem Kopf auf das entsprechende Fenster. Ihr Büro liegt auf der Seite des Amtsgebäudes, die eins vom Park aus sehen kann.
Socke starrte eine Weile nach oben und nickte dann zufrieden.
„Passt. Da geht die Masche ‚Hilfloser Kater‘. Ich kletter‘ auf den Baum, der da steht. Der eine Ast geht direkt an ihrem Fenster entlang, seht ihr? Dort werde ich sitzen und jämmerlich mauzen.“
Er gab uns eine Kostprobe, setzte den entsprechenden verzweifelt-niedlichen Blick auf und tat sehr gekonnt so, als würde er ein wenig zittern.
In der Tat, schauspielerisch war das eine hervorragende Leistung.
„Sie müsste mich vom Fenster aus erreichen können. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird sie mich retten wollen und hereinheben. Damit hätte ich dann nicht nur eine Pfote, sondern alle vier drin.“
Er grinste zufrieden.
Hm, miau. So ganz teilte ich seine Zuversicht nicht, daher fragte ich: „Und was ist Plan B?“
„Brauch ich nicht. Das ist was für Anfänger*innen. Notfalls beeindrucke ich diese Brigitta mit einem kleinen Stepptanz auf dem Fensterbrett.“
Stepptanz ist eine der Leidenschaften, die ihn wohl mit den Gnom*innen verbindet, wusste ich von Spring, die nun endlich das gesamte Trockenfutter verputzt hatte und erneut mit den Augen rollte. Sie überging das mit dem Stepptanz und bemerkte knapp:
„Merlin hat Recht. Du brauchst einen Plan B.“
Socke schwieg einen Moment.
„Also gut, ich komme von dem Ast aus locker mit der Pfote ans Fenster. Im Zweifel kratze ich so lange dran, bis sie es öffnet, und springe dann rein. Wenn das vom Baum aus wirklich nicht klappt, weil Brigitta wider Erwarten immun gegen einen Kater in Not ist, lauer ich ihr auf, wenn sie nach Hause geht. Ich glaube allerdings, dass die Baum-Nummer zu schnelleren Erfolgen führt. Zufrieden?“ Er sah Spring mit einem Schmunzeln an. „Ich mach das schon. Großes Zauberkatzenehrenwort.“
„Also gut. Wir treffen uns einmal die Woche. Am besten vor Annas Haus“, Spring wurde energisch. „Hier ist mir das auf Dauer zu auffällig. Du setzt uns über alles in Kenntnis. Was du tust, was du erfährst. Über alles. Du sprichst jeden Schritt mit uns ab. Dein einziger Job ist es, Brigittas Vertrauen zu gewinnen. Und erst mal outest du nicht als magisches Tier.“
Socke kannte den Tonfall seiner Cousine wohl, denn er wurde augenblicklich sehr ernst: „Verstanden.“
Mir dagegen war dieses Auftreten von Spring neu. Sie war auf einmal ganz Vorstandsmittier. Beeindruckend.
Mehr war erst einmal nicht zu besprechen und so lagen wir an jenem Nachmittag noch ein wenig zu dritt in der Sonne und quatschten über dies und das, bevor Spring und ich zu Anna zurückkehrten und Socke noch ein wenig die Gegend erkundete.
Ich war immer noch skeptisch, ob die Nummer mit dem Baum funktionieren und Socke es wirklich schaffen würde, mit Brigitta Freundschaft zu schließen. Ich hatte ihr selbst noch mal aufgelauert, früh am nächsten Morgen, um wenigstens zu wissen, wie sie aussah. (Erzählt das bloß nicht weiter.) Es handelt sich um eine kleine, etwas ältere, grauhaarige Dame in Kostüm und Pumps. Hager mit missmutigen Gesichtszügen. Ein bisschen das Klischee einer Amtsleitung. Sie sah nicht so aus, als würde sie ein großes Herz für Tiere haben. Doch schon in der Woche darauf verkündete Socke stolz, dass die ersten Bande zu Brigitta geknüpft waren.
Er hatte es tatsächlich im ersten Anlauf geschafft, dass Brigitta ihn „rettete“. Allerdings trug sie ihn erst mal quer durch das Amt und setzte ihn unsanft vor dessen Türen ab. Von da an wartete er jeden Morgen genau an dieser Stelle auf sie und begleitete sie, anfangs noch gegen ihren Widerstand, in ihr Büro. Nach nur sechs Tagen hatte er dort ein gemütliches Kissen und eine riesige Auswahl an Leckerlies. Sie nannte ihn komplett unoriginell, aber liebevoll „Katerlein“. Wie immer er das so schnell geschafft hatte, miau. Vielleicht war es wirklich sein geschickt eingesetzter Charme. Egal, wir hatten unseren Spion, da wo wir ihn haben wollten. Und ganz vielleicht würde ich in absehbarer Zeit meine magische Feder wieder einsetzen können.
Für heute, meine zauberhaften Leser*innen, war es das. Wenn ihr mögt, hinterlasst mir doch hier einen Kommentar. Oder auf meinen Social Media Accounts.
Wir lesen uns. Bis bald.
Es grüßt euch herzlich euer Merlin
firefly (Donnerstag, 20 Juni 2024 18:35)
Bin gespannt, wie sich das Verhältnis zu Socke entwickelt ☺️ und schön, wie gut der exkurs zur erschöpfung integriert ist. treffend
@energiepirat (Montag, 17 Juni 2024 20:34)
Lieber Merlin, Warten ist keine Qual. Es ist eine Tugend, die vor allem Katzen gut beherrschen. Freut mich, dass Euer Zwist ausgeräumt ist. Es war aber auch wichtig und die Kommunikat(z)ion is t bei den Zweibeinern bekanntlich nicht besser.
Typen, die scheinbar nichts ernst nehmen sind wesentlich sorgfältiger als die, die immer so tun als wäre ihnen alles wichtig. Meine Erfahrung. Meist sind die ersteren zuverlässiger, weil robuster und besser belastbar. Während zweitere sich in der Hierarchie der Wichtigkeiten verzetteln.
Angesichts dessen was ich alles gern in diesem „Land“ verbessert hätte, scheint es als hätte dieses „Land“ noch nie Diplomatische Beziehungen mit der Zauberwelt gehabt. Aber nichtsdestotritz bitter nötig.
Mit gewissen Konrads hat das „Land“ aber auch seine Erfahrungen: Adenauer. Der hat ja bekanntlich das Prinzip des „Lands“ schlechthin festgelegt. Noch über einer Verfassung oder den Grundgesetz: „Keine Experimente“. Seitdem werden die Bewohner und das „Lnd als ganzes nach und nach in allen Belangen überholt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Und prompt bestätigt dieser Konrad da bei Euch seine patriarchalische Einstellung. Weiße alte Männer ohne Weisheit. Und denen kann man es leider nur mit der Kraft eines Gorillas klarmachen.
Wie gewohnt finde ich mich auch diesmal an einigen Stellen wieder.
Socke hat diesenAbend schon mal gerettet, bevor er angefangen hat. Der Dandy! Cooler Kater.
Danke für diese sehr gut vorstellbare Geschichte
Ginny (Sonntag, 16 Juni 2024 07:42)
Ich warte immer schon auf deine Geschichten, lieber Kater.
Socke finde ich cool.